Ernst Krenek (
Seatte)
"Nothing Sacred"
antigua!! essay MS
(Zum amerikanischen Film, II, zur amerikanischen Mentalität, IV.)
Der Film, der diesen Titel trägt - "Nichts ist heilig" -, ist fast ein
vollkommen guter Film. Es handelt sich darum, daß ein Reporter
(wieder einmal), auf seiner verzweifelten Suche nach Sensationen
total verunglückt, herausfindet, daß in einem Provinznest in
Vermont ein Mädchen lebt, das an einer chronischen Radium-
vergiftung leidet und einem sicheren, wenn auch langsamen
Tod entgegengeht. Es Dem Reporter wird ihm vom Herausgeber der Zeitung
als letzte Chance gewährt, diese Attraktion nach New York zu
bringen und für die Zeitung auszuschlachten, bevor sie von selbst
draufgeht. Nach manchen Schwierigkeiten gelingt es dem Mann
die Rarität ausfindig zu machen und mit dem Landarzt, der
sie behandelt, nach New York zu schaffen. Sie wird großartig einge-
kleidet und von einer Festivität zur anderen geschleppt, und das
Volk reißt sich die Zeitung, welche über das alles fortlaufend berichtet, aus den Händen,. welche Es gibt hier einige
Szenen, die wirklich ihresgleichen suchen. In einem ungeheuren Sport-
palast finden Ringkämpfe statt. Ein riesiger Mensch mit gewalti-
gem Bartwuchs mißhandelt seinen Gegner in regelwidriger
Weise, indem er ihm an die Gurgel springt, der Schiedsrichter ver-
mag sich nicht anders Geltung zu verschaffen, als indem er
dem baumlangen Kerl auf die Schultern springt und von oben
in den Kampf einzugreifen sucht. In diesem aufregenden Mo-
ment tritt der Manager des Unternehmens in den Ring und gebietet Stille,
worauf sich die laokoonhafte Gruppe der Kämpfer löst. Er
verkündet: "Meine Damen und Herren, ich habe die Ehre Ihnen
mitzuteilen, daß unter den Zuschauern dieses gewaltigen Schau-
spiels das todgeweihte Mädchen von Vermont weilt. Ich bitte
Sie, zu Ehren dieser Heldin ein feierliches Stillschweigen von
zehn Sekunden zu bewahren." Auf ein gewinnendes Zeichen
von ihm konzentrieren sich die Scheinwerfer auf die Heldin von Ver-
mont und das Publikum schluchzt zehn Sekunden lang vor
Ergriffenheit. Nach dem zehnten Glockenschlag spielt die Musik
einen Tusch, der baumlange Kerl springt seinem Gegner an
die Gurgel, der Schiedsrichter besteigt seine die Schultern jenes und
das Publikum ist mit der gleichen, nur kurz unterbro-
chenen Anteilnahme wieder dabei, voll Aufregung und unter frenetischem Geheul zuzu-
sehen, wie die Sache ausgehen wird.
Man schleppt die Heldin in ein Nachtlokal, wo man zu ihren
Ehren ein Revuebild einlegt, in welchem die größten Heroi-
nen der Geschichte hoch zu Roß auftreten. Anziehend aus-
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gezogene Revuegirls reiten herbei, als Penthesilea, Lady Godiva
oder sonst etwas der Art ausstaffiert. Zuletzt tritt in ihre Mitte aus
dem Zuschauerraum, von donnerndem Applaus begrüßt, das todgeweihte
Mädchen von Vermont, lieblich grinsend und alle an Heroismus
übertreffend. Bereits total betrunken, fällt die Heldin der Länge
nach hin, der alte Landarzt ist um sie bemüht. In höchster Er-
regung stürzt der Herausgeber der Zeitung herbei: "Ist es so
weit? Stirbt sie schon? Aber beeilen sie sich, mir etwas Positives
zu sagen, denn in fünfzehn Minuten geht mein Morgenblatt
in Druck."
Natürlich ist es nicht so weit, aber der Reporter, der die Erfindung
gemacht hat, meint immerhin, es sei an der Zeit, die nötigen
Schritte zum letzten Coup zu unternehmen. Wenn die Heldin
ihren Rausch ausschläft und seine durch den Gesang von Schulkindern ge-
weckt wird, die sich zu ihren Ehren unter der Leitung ihrer Aufsichtspersonen versammelt haben, so
erzählt er ihr, er müsse eben zum Gouverneur nach Albany,
der Hauptstadt des Staates New York, um die Dispositionen
für das Leichenbegängnis zu besprechen, denn schon seien vier-
zigtausend Autos angemeldet. Vielleicht werde sogar der
Präsident der Vereinigten Staaten kommen, wenn er nicht gerade
mit Fischfangen befaßt sei (großes, wohlwollendes Gelächter
des Publikums). Indessen gräbt sich der begabte Mann, der sich
inzwischen in sein Opfer verliebt hat, selbst das Grab, da indem er einen berühmten
Radiologen aus Wien bestellt hat, der nachsehen soll, ob die schreck-
liche Krankheit nicht vielleicht heilbar ist (die Hersteller des Films haben aller-
dings, soweit man nach der Figur des Radiologen urteilen kann,
Wien offenbar mit Berlin verwechselt). Unnütz weiter auszu-
führen, wie sich natürlich herausstellt, daß an der ganzen
Radiumvergiftung kein wahres Wort ist. Die Zeitung, die in ihrer Existenz
angeblich bis in ihrer Existenz bedroht wäre, wenn der Schwindel
herauskäme, schließt mit dem todgeweihten Mädchen einen
Kompromiß, indem dieses einen fingierten Selbstmord unter-
nimmt und einen rührenden Abschiedsbrief an New York
schreibt, der in der Zeitung faksimiliert erscheint. Alles gelingt
nach Wunsch, und das glückliche Hochzeitspaar, Reporter und
Radiummaid, erhält auf dem Schiff, das die beiden sie nach Cytheren
bringt, ein Kabel vom Chefredakteur: "Begräbnis glänzend
verlaufen, großer Erfolg."
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Sh Schon der Titel dieses Films verät, daß dem Werk eine satirsche Absicht
zugrunde liegt. Tatsächlich sind wesentliche Momente des amerikanischen
Lebens mit erheblicher Schonungslosigkeit angegriffen: der Zwang,
um jeden Preis ein Geschäft zu machen, und müsste man auch eine Todes-
kandidatin durch die Gosse schleifen, und der Terrorismus einer Publizi-
stik, die vor nichts halt macht, um ihrem Produkt Massenauflagen
zu sichern. Wir habe in den letzten Tagen ein praktisches Beispiel da-
von gesehen, als ein großes Wasserflugzeug auf der
Reise von San Francisco nach Neuseeland explodierte und mit sieben Mann unterging
Tagelang waren die Spalten der Zeitungen voll von dithyrambischen
Schilderungen der Trauer der Witwen, denen die Reporter die Türen
einrannten, um ihre erschütternden Aussprüche in Katastrophen-
lettern auf den Titelseiten der Blätter zur Kenntnis des Lese-
pöbels zu bringen. Daß der Reporter im Film "Nothing Sacred"
ein sympathischer Jüngling, ein typischer, "darling" ist, dem man
Glück und gute Geschäfte gönnt, biegt die Spitze die Satiere na-
türlich schon ein wenig ab. Krasser ist schon die Figur des
Herausgebers der Zeitung, der wieder von dem üblichen Stab
von verbotenen Galgenvögeln umgeben erscheint. Sie
dienen zur Überwachung seiner Opfer, wenn sich diese der
publizistischen Marter etwa entziehen oder, einem günstigeren
Angebot folgend, vielleicht gar zur Konkurrenz übergehen,
wollten, eine Überwachung, die nicht ohne Brachialgewalt ausgeübt wird. Vernichtend ist das Urteil über eine Öffentlich-
keit, die bis zu den höchsten Spitzen bereit ist, jedem Hum-
bug aufzusitzen, wenn er mit der nötigen Insolenz ser-
viert wird, und ebenso bereit, im nächsten Augenblick alles,
was sie soeben für das Erschütterndste gehalten hat, sofort
zu vergessen, wenn irgend ein neuer lärmender Schwindel
seine Verlockungen ausstrahlt. Alle diese Elemente wären
höchst begrüßenswerte Zeichen einer Haltung, die die Grund-
übel des amerikanischen Lebens erkannt hat und ihm voll
eifrigen Grimms den Spiegel vorhält. Einer solchen Deutung
steht die Tatsache entgegen, daß ja auch dieser Film in erster
Linie zu dem Zweck ersonnen wurde, ein großes Geschäft zu ma-
chen, und daß seine Hersteller also, da er tatsächlich sehr
erfolgreich ist, mit Recht damit rechnen dürften, daß das
Publikum sich durch die satirische Behandlung seiner selbst
bloß unterhalten, nicht aber angegriffen fühlen werde. So
wird eher das Gegenteil einer satirischen Wirkung erreicht,
der Betrieb zeigt wohl gewisse unsympathische Seiten, aber da
alles gut ausgeht, so kann man schließlich nichts Ernsthaftes
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einwenden. Am Ende sollte jedes Mädchen glücklich sein, wenn
es mit Hilfe einer glänzenden "idea", und sei es auch nur die
einer eingebildeten Radiumvergiftung, in den Mittelpunkt der öf-
lautlichen Meinung rückt, einige Zeit auf Kosten der allgemeinen Ver-
blödung herrlich und in Freuden lebt und zuletzt einen tüchtigen
Businessman heiraten darf. Das Beispiel dieses dennoch ziemlich
guten und auch gut ausgeführten Filmes lehrt, daß das Unterhaltungsge-
schäft, der des Kinos selbst in der Ironisierung seines Gegenstandes schon
sehr weit gehen kann, ohne seine eigene Existenz sich selbst zu untergraben. Die Wirksamkeit
der echten Satire wird auf ein Minimum eingeschränkt, wenn die Vorur-
teilslosigkeit so weit geht, daß man an nichts etwas auszusetzen fin-
det, wenn nur ein Erfolg dabei herausschaut. Europa ist übrigens
auf Grund einer entgegengesetzten Entwicklung praktisch zu dem gleichen Resul-
tat gekommen, auch dort kann die Satire infolge des Mangels
in verbindlicher Werterkenntnis kaum mehr wirken, nur liegt
es dort daran, daß die Vorurteile nachgerade die Sphäre der
Werte aufgezehrt haben, während hier die Wertung des Erfolges
so stark ist, daß andere Wertmaßstäbe gar nicht aufkommen,
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Ein anderer, sehr bemerkenswerter, wenn auch weniger
beachteter Film hieß "Manhatten-Melodrama". Hier werden die
Schiksale zweier Knaben geschildert, die bei der Brandkatastrophe
des Dampfers "General Slocum" im Jahre 1904 ihre Eltern ver-
lieren, worauf sie von einem russischen Einwanderer, dessen
Kinder wiederum dort umgekommen sind, aufgezogen werden.
Schon dieser Anfang mit einem schicksalsbildenden Elementarereignis ist sehr ein-
drucksvoll. Später findet auch jener Russe bei einer politischen
Demonstration den Tod, und, sich selbst überlassen, entwickeln sich
die beinahe zu Brüdern gewordenen zwei jungen Menschen in sehr ver-
schiedener Weise. Während der eine zum Spieler wird und in
üble Gesellschaft gerät, wird aus dem anderen ein strebsamer
Jurist und Politiker. Er wird zum Staatsanwalt von New York
gewählt und als solcher bekommt er es mit den schlimmen
Streichen des anderen zu tun. In sehr zugespritzter, kolportage-
hafter Weise wird gezeigt, wie er gerade durch die Aufdeckung
der Missetaten seines Quasi-Bruders zu immer höherer Geltung
in seinem Amt aufsteigt. Die Gangsterbande des anderen
ungeratenen Gesellen versucht, aus der Vergangenheit, in
der die beiden noch in Verbindung waren, Kapital zu schla-
gen und den angesehenen Beamten zu erpressen. Um die
Gefahr abzuwenden, bleibt dem Chef der Bande, dessen edle Gefühle
für den Freund natürlich fortleben, nichts übrig, als den ge-
führlichsten seiner Bravos niederzuschießen. Darob vor Gericht
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gestellt, wird er auf Grund des glänzenden Plaidoyers seines
Busenfreundes zum elektrischen Stuhl verurteilt. Bevor das Urteil
vollstreckt wird, steigt der Staatsanwalt zur Würde des Gouver-
neurs von New York auf und muß als solcher das Gnadengesuch
des Verdammten ablehnen. Zu spät erkennt er, daß das Verbrechen
in seinem eigenen Interesse geschehen war, und er legt sein Amt, dessen
er sich unwürdig fühlt, nieder, während der andere seinen letzten
Gang antritt. Diese rührselig scheinende Kolportage-Geschichte
schlägt durch die Zuspitzung ihrer Unwahrscheinlichkeiten und
durch die unheimliche Rolle, die in ihr der Zufall spielt, in eine
Qualität um, derer sich die Hersteller vielleicht kaum bewußt
waren, sonst hätten sie diese Tendenz noch stärker unter-
strichen. Das rasche, überspitzte Spielen mit den Antithesen
erinnert ein wenig an Georg Kaiser, während das Motiv
der divergierenden Schicksale, wobei der Aufstig des einen
zu Lasten des anderen geht, bis die Katastrophe beide
verdirbt, geradezu aus der Ideenwelt Raimunds zu
stammen scheint.
In dieser Möglichkeit, durch Tempo und Zuspitzung die
plane Realität transparent zu machen, liegen die eigent-
lichen künstlerischen Möglichkeiten des Films, und es ist im-
merhin erfreulich zu sehen, daß sie da und dort wenigsten
geahnt, wenn auch noch nicht erkannt werden. Für den
Großteil des amerikanischen Films gilt leider nur zu sehr
die Devise "nothing sacred", wenn es gilt, ein tüchtiges Ge-
schäft zu machen.
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Das naheliegende Motiv, daß die Unerbitterlichkeit des strebsamen Mannes wenigstens
unbewußt damit zusammenhängt, daß er den für seine
Karriere gefährlichen Jugendfreund los sein möchte, wird
bezeichnenderweise nicht augenützt, denn es würde die
vom Publikum verlangte Schwarz-Weiß-Zeichnung, die ab-
solute Makellosigkeit des "guten" Helden vielleicht stören.