Ockeghem
Abstract
Ausgehend von dem Vorwurf der Intellektualität und der mathematischen Berechnung, den vom Publikum öfters gegen Werke von Krenek, Schönberg und anderer zeitgenössischer Komponist:innen erhoben wurde, befasst sich Krenek in dem Vortrag für den Bayerischen Rundfunk (Sendedatum: 2. November 1966) mit dem franko-flämischen Komponisten Johannes Ockeghem.
Krenek geht auf die Rezeptionsgeschichte ein, auf die negativen Wertungen, die Ockeghem von Musikschriftstellern des 19. und 20. Jahrhunderts zuteil wurden, und ihn tatsächlich mit Schönberg verglichen. Krenek geht auf kompositorische Besonderheiten Ockeghems ein, aber auch auf die musikästhetischen Ansprüche des späten 15. Jahrhunderts, für die eben der im 19. und 20. Jahrhundert so vermissten „Ausdrucksgehalt“ von Musik keine relevante Kategorie war.
Bayr. Rdf
Ockeghem
Den zeitgenossischen Komponisten, vor allem
jenen, die sich der von
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daß nicht einmal sein Todesjahr feststeht, da er
am Ende seines Lebens nicht nur als Komponist
weit bekannt und hochverehrt war, sondern als
Hofkapellmeister des Königs von Schatzmeister der St. Martins-Abtei in
So wie die Geschichte die Lebensumstände
Lebzeiten seiner Zeit be-
rühmten Mannes schnell mit den Schleiern der Ver-
gessenheit vernebelt hat, so hat die Musikgeschichte
seiner Reputation übel mitgespielt. In den ton-
angebenden Musikgeschichten des
neunzehnten und angehenden zwanzigsten Jahrhunderts
wird er meist als rein intellektueller mponistsein lang mit Exempel eines Künstlers, der ... darauf aus ist,
Schwierigkeiten schafft nur weil es ihm Vergnügen macht,
sie zu überwinden. Ausdruck war
Er scheint etwas von der Mentalität
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gehabt zu haben, dieselbe rücksichtslose Gleichgültig-
keit gegen bloß sinnliche Schönheit... er ist der Schulmeister,
der Exerzierfeldwebel der Musik." Soweit
Man muß sich fragen, worauf diese kategorischen
Verurteilungen begründet sind. Bis zu unseren Tagen
war nämlich von erschien eindie gegen 1956 Es muss zugegeben werden, Da kaum anzunehmen ist, daß
die früheren Geschichtsschreiber abgelegene Archive
durchstöberten, um durch Inspektion der Original-
quellen zu ihren absprechenden Urteilen zu gelangen,
müssen sie sich auf irgendwelche anderweitige
Information bezogen haben.
Wir sind zur Vermutung gekommen, daß
einer der wichtigsten Faktoren in der Entstehung
des überlieferten des Schweizer
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großen die s Abhandlung, sondern geschrieben dem oder so haben waren
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Das "Gezwitscher" war in der Tat sehr schwer
zugänglich, da es nirgends separat abgedruckt,
sondern nur als Musikbeispiel in abgelegenen
theoretischen Papieren zu finden ist. Es handelt
sich um einen sechunddreißigstimmigen Kanon,
ein tour de force, wie er damals auch von an-
deren Komponisten als Fleißaufgabe prakti-
ziert wurde. Das Kuntstück sieht schwerer aus
als es ist, denn da sich der Komponist auf die nach dem damaligen
Gebrauch zulässigen harmonischen Kombinationen
beschränken mußte, können sich die Stimmen des
Kanons fast nur in zerlegten Dreiklängen bewegen,
und wenn sie einander sechsunddreißigfach imi-
tieren, ist Endergebnis ein endlos
Eine weitaus schwierigere Aufgabe hat sich
Missa ProlationumHier Alle Teile
dieser Messe sind kanonisch durchgearbeitet, d.h.
die vier Stimmen bringen dasselbe
melodische in Imitation nach Stimmen schreiten jedoch in
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verschiedenen Geschwindigkeiten fort, wobei das Tempo
der einen Stimme in einer genau durchgehaltenen
Proportion zu dem der anderen steht. Es ist natür-
lich außerordentlich schwer, die beiden Stimmen so zu
führen, daß die zwischen ihnen entstehenden Inter-
valle trotz der ständig zunehmenden zeitlichen
Divergenz den Konventionen
Ein anderes Werk, das einen hohen Grad
kontrapunktischer Meisterschaft verrät, ist
die sogenannte "schlüssellose" Messe, Missa cuius-vis tonigibt Ausführendenist freilich
nämlich jene die nach den anerkannten Regeln
korrekt sind. Hier hat der Sänger ein Notenblatt
mit den normalen Noten vor sich, aber die Zeilen
haben keinen Schlüssel vorgezeichnet, so daß die
absolute Tonhöhe der vorhandenen Noten nicht
ersichtlich ist. Ein Schlüssel muß von den Inter-
preten gewählt werden, aber da die Komposition
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mehrstimmig ist, muß die Auswahl für die ver- schiedenen Stimmen so koordiniert werden, daß das Resultat "stimmt". Man darf die technischen Kenntnisse und die Geschicklichkeit der damaligen Interpreten mit Fug und Recht bewundern, wenn ihnen die Lösung solcher Rätsel zugetraut werden konnte.
Dabei diese Chormusikmodus. Die nächste, Tempus
genannt, hat je drei Zeitwerte für jeden des modus,
was tempus perfectum heißt, oder zwei, und das ist
imperfectum. Die schnellste ist die dritte, äußerste
Schichte, prolatio, die wiederum zwei oder drei
Werte für jeden des tempus hat. Alle Kombinationen
von perfekt und imperfekt sind zulässig.syste-m auf
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in unserem Sinn, und daher auch keine Taktstriche.
Jeder Sänger folgt seiner individuellen Tonlinie,
ohne zu wissen, wo die anderen sind. Und es gibt
auch keine Partitur, nach welcher der Dirigent
den Vorgang verfolgen und Einsätze geben könnte.
Er kann nur den Fluß der Zeiteinheiten
markieren, wobei heute angenommen wird, daß
das Standardtempo dieses Flusses etwa bei 72
Einheiten per Minute lag, dem normalen Puls-
schlag entsprechend.
Der Denkweise des Mittelalters was dieses das einzige sondern allgemeingültigen Grundtempo. Diese
mußten in Proportionen ausgedrückt werden. Das
heißt, wenn das Grundtempo 72 Einheiten per Minute
hatte und der Komponist einen schnelleren Fortgang
wünschte, der metronomisch etwa 108 Schlage per
Minute erforderte, so mußte er einen Bruch "drei
über zwei" einschreiben, der dem Sänger angab, daß
in der dem Bruch folgenden Passage drei Noten in
derselben Zeit zu singen waren, die vor dem Bruch
von zwei Noten desselben Wertes beansprucht wurde.
Wir nennen das heute eine Triole. Es gab aber
weit kompliziertere Proportionen als zwei zu
drei. Die Theoretiker gefielen sich darin, ihre Hand-
bücher mit ganz haarsträubenden Kombinationen
zu füllen. Da nun der Tempowechsel nicht in
allen Stimmen gleichzeitig aufzutreten hatte,
ergaben sich zusätzliche, und kaum vorstellbare
Schwierigkeiten für Sänger,
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Missa Prolationumprolatio auf dieses
Proportionswesen, nicht auf die früher erklärte
schnellste Schichte der Mensuralzeitmessung.
Ein anderer aparter Titel ist die Mi - Mi
alle Teile mit der melodischen Fortschreitung E - A
beginnen. Im Mittelalter hat man als Grundgerüst
des Tonmaterials im Anschluß an die altgriechische
Theorie drei Hexachorde angenommen, d. h. Sechston-
skalen, von denen eine auf C, die andere auf F, und
die dritte auf G begannen. In allen dreien wurden
die Töne mit ut, re, mi, fa, sol, la bezeichnet. Dem-
zufolge ist unser E ein mi im ersten Hexachord,
und unser A ein mi im zweiten. Das damit ange-
deutete Hin- und Herschwingen der Musik zwischen
den beiden Hexachorden ist für unsere Ohren na-
türlich nicht sehr auffallend.
Viel eindringlicher kommt solcheund Herschwingen zwischen kontrastierenden
harmonischen Farbwerten abwechseln läßt,
Messen MissaCaputund Serviteur, und InHinsicht seine Solchen Zügen zeigen
Missa
Serviteur
, wo der Cantus auf knappem Raum von C zu D hinüberwechselt.
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als das von den Theoretikern empfohlene,
die schon auf die gemäßigte Eleganz des
Palestrinastils hinarbeiteten. Ihnen erschien
Das ist nicht nur auf seine unorthodoxe
Behandlung der Dissonanzen zurückzuführen,
sondern vor allem auch auf viele Cha-
rakterzüge seines gesamten Kompositionsstils.
Dazu gehört zunächst eine eigentümliche
Ruhelosigkeit, die den einmal in Gang ge-
setzten musikalischen Verlauf zu keinem
auch nur vorübergehenden Stillstand
kommen läßt, bevor das im Wesentlichen
vom Verbrauch des zugrundeliegenden
Textes diktierte Ende erreicht ist. Eine
andere Eigentümlichkeit von
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die ihn dem modernen Empfinden näher bringt,
ist das plötzliche Auftreten von wirbelartigen
Turbulenzzentren in einem ,
Es ist eigenartig, Wir haben seine Musik was den überhaupt nicht