[Vortrag für eine Radiosendung des SWF über Franz Schuberts Streichquintett in C-Dur, op. post. 163, D 956]
Abstract
In seinem Vortrag für eine Radiosendung des SWF im August 1973 bespricht Ernst Krenek Schuberts Streichquintett C-Dur op. post. 163, D 956. Nach einer Verortung des Werks und dessen früher Rezeption im historischen Kontext analysiert er mit dichter Bezugnahme auf Hörbeispielen kompositorische Eigenheiten des berühmten Kammermusikwerks.
Als
Warum
Vorübergehend könnte man auch vermuten, daß
2
Wenn
Dabei kann man die Gleichgültigkeit seiner Mitwelt nicht etwa
dem Umstand zuschreiben, daß er ein verkanntes Genie war, dessen
Musik seine Zeitgenossen nicht verstanden. Er war in
Vielleicht war seine Kammermusik auch technisch zu schwierig, um
von Musikern unter der Spitzenklasse bewältigt zu werden. Aus Be-
richten entnimmt man, daß damals Streichquartette als Solostücke
für Geige mit Begleitung von drei anderen Streichinstrumenten be-
trachtet wurden. Sie wurden vielfach von reisenden Virtuosen
aufgeführt, die dann in der jeweiligen Stadt die Mitspieler aus
den lokalen Kräften rekrutierten. Noch
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Der erste Satz des 1 I 1 - 10
Das Tempo ist mit Allegro ma non troppo angegeben, und in diesem
Tempo füllt der erste Akkord, der C-dur Dreiklang, zwei ganze Takte.
Da aber Notenwerte, die kleiner sind als Halbe, fast gar nicht arti-
kuliert werden, kann man sich die Phrase beim Anhören als ein
sehr ruhiges Andante vorstellen, also halb so schnell als sie notiert
ist. In diesem Fall würde der erste Akkord nur einen Viervierteltakt
füllen. Hören wir diese Phrase darauf hin nochmals.
2 wiederhole 1
Die kleine Verzierung in der Melodielinie über dem zweiten Akkord,
technisch als Doppelschlag oder Mordent bekannt, wird uns in dem
Die Eingangsphrase wird sogleich in d moll wiederholt,
und schon hier hat das erste Cello die führende Stimme.
3 11 - 20
Die Phrase führt zwar zurück nach C dur, aber diese Tonart
wird nicht befestigt, sondern durch chromatische Schritte fraglich
gemacht, was wiederum dem traditionellen Charakter der oft
harmonisch unstabilen Einleitungen symphonischer Sätze ent-
spricht. Ein Haltepunkt wird erreicht auf der Dominante
von e moll.5 2b (Auft.) - 33 (1. V.)
420 - 25
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Das Hauptthema wird von den zwei Cellos kräftig wiederholt,
während die anderen Instrumente die Allegro-Bewegung in Gang
halten.
6 33 - 40 (1. V.)
Auch die d moll-Version des Themas erscheint wieder und wird
in einer chromatisch aufsteigenden Überleitung ausgesponnen, die
alsbald zu einer Halbkadenz auf der Dominante führt. Wir sind
bereit für das zweite Thema.
7 49 - 58 (1. V.)
8 58 - 60 (1. V.)
Nun das zweite Thema, das zunächst die beiden Celli vortragen.
Es beginnt in Es dur, statt dem erwarteten G dur, mit einer un-
regelmäßigen Periode von zwei plus vier Takten - die Dehnung
des zweiten Gliedes der Periode in ihren letzten zwei Takten ist
deutlich hörbar.
9 60 - 65
Der anschließende Nachsatz beginnt mit denselben zwei Takten
wie der Vordersatz. Jetzt aber wird ein totaler Stillstand von
drei Takten eingeschoben, worauf die beiden Anfangstakte
in C dur wiederholt werden. Ein weiterer Stillstand von vier
Takten deutet das C dur als Unterdominante von G, und in
dieser lang zurückgehaltenen Tonart schließt das Thema mit
drei Takten, die seinen Anfang in Erinnerung rufen.
10 66 - 79 (1. V.)
Wir hören diese raffinierte Konstruktion von gestörten und
wiederhergestellten Gleichgewichten sogleich noch einmal,
wobei jetzt die beiden Geigen die graziös hinschwin-
gende Melodie vortragen.
11 81 - 100 (1. Ton)
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Eine Reihe von abschließenden Phrasen befestigt nur die Dominant-
Tonart. Ob man sie als Anhang zum zweiten Thema oder als Teile
einer selbständigen Schlußgruppe der Exposition betrachtet, ist vor
allem Geschmacksache. Die letzte dieser Phrasen hebt sich jedenfalls
deutlich ab, da hier die fünf Instrumente lagenmäßig dicht zu-
sammengedrängt und rhythmisch im staccato Gleichschritt auftreten.
12 137 (2. V.) - 141 (1. V.)
Die Exposition verklingt mit einer Reminiszenz an das zweite Thema.
13 145 - 152
Ohne modulatorische Formalitäten versetzt uns die Durchführung
unvermittelt nach A dur und befaßt sich zunächst mit den die
Exposition abschließenden Elementen.
14 154 - 166 (1. V.)
Dieses letztes Element - die dichtgedrängte staccato Phrase - wird ihres
staccato Charakters entkleidet und über ihrer nun sanft hin-
fließenden Wellenbewegung entwickelt die erste Geige ein für die
15 180 - 202 (1. V.)
Dieser ganze Abschnitt wird auf anderer tonartlicher Ebene wieder-
holt. Dann wird jener an sich unscheinbaren Phrase, die dem ganzen
ausgedehnten Vorgang zugrunde liegt, ihr aggressiver staccato Cha-
rakter zurückgegeben und durch ihre chromatischen Verschiebungen
drängt sie in sich verkürzenden Imitationen das Geschehen in den
Dominant-Akkord von C dur, so die Reprise vorbereitend. Diese
setzt fast unmerklich ein, da das staccato Element, zu leichten
pianissimo Tupfen reduziert, unablässig weitergeht, während die
gehaltenen Akkorde, mit denen das erste Thema anhebt, schon
vier Takte früher am Ende der Durchführung vorweggenommen
werden.
16 248 - 275
Die Reprise nimmt von hier ab den in den frühklassischen
Modellen vorgesehenen Verlauf. Alle in der Exposition vorge-
stellten Themen und Phrasengruppen werden in derselben Reihen-
folge unverändert wiederholt, jedoch so daß nunmehr alle in
der Haupttonart C dur stehen.
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Der zweite Satz, Adagio, ist formal eine der erstaunlichsten und
großartigsten Konstruktionen 17 II. 1 - 4
Schon im vierten Takt deutet das harmonische Geschehen auf etwas Un-
gewöhnliches. Statt auf eine Rückkehr zur Tonika von E dur oder auf
eine Halbkadenz auf dessen Dominante vorzubereiten, was der traditions-
bewährte Vorgang wäre, wird der durch die Alteration des E zu Eis ver-
fremdete cis moll Dreiklang der sechsten Stufe von E als Dominant-
Akkord beim Wort genommen, und für die nächsten sieben Takte ist
das ganze musikalische Geschehen auf das Niveau von Fis dur ge-
hoben, als ob es das am Anfang etablierte E dur nie gegeben hätte.
Erst im achten Takt wird zur Subdominante von E zurückmoduliert
und nach drei Takten ist eine Schlußkadenz erreicht. Hier die Fis dur
Episode
18 5 - 12
und die Abschlußtakte
19 13 - 15 (1. V.)
Die ganze Passage ist zu verstehen als eine siebentaktige Periode
mit einem sowohl wegen seiner Länge als auch harmonischen Ge-
staltung ungewöhlichen Einschub von acht Takten. Die erstaunliche
Übung wird wiederholt, wobei die Vogelstimmen von pizzicatos und
anderen Fioritüren abgelöst werden, jedoch in verkürzter Form.
Statt eines so ausführlichen Einschubs gibt es nur eine Dehnung,
durch die die siebentaktige Periode auf zehn Takte erweitert wird.
20 15 - 18
Dehnung
21 19 - 21
Abschlustakte
22 22 - 24 (1. V.)
Fünf weitere Takte führen zu einer Beruhigung, die so vollständig
wirkt, als ob das Stück zu Ende und nichts weiter zu erwarten
wäre.
23 24 - 28 (halber T.)
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Umso überraschender ist der Eintritt des Mittelteils, der
ein nicht weniger erstaunliches
Musikstück ohne 24 29 - 39 (bis 10. Achtel)
Diese lange Phrase endet wohl in f moll, aber eigentümlicherweise
wird das kaum als Rückkehr zur Haupttonart empfunden, und
zwar dadurch, daß die c moll Tonalität, nach drei Takten
großer chromatischer Anstrengung auf den Höhepunkt der
langen Phrase placiert wurde und so eine beherrschende Posi-
tion erlangte. Hören wir nochmals diesen Teil der Passage:
25 35 - 39 (wie oben)
Das f moll wird weiterhin in eine von c moll abhängige
Stellung verwiesen, indem es nunmehr mit der sogenannten
neapolitanischen Sext von c moll identifiziert wird. Obwohl
das benützt wird, um nochmals in die F- moll Endung der
ersten Phrase zu münden, hat diese jetzt noch weniger
Überzeugungskraft als vorher.
26 40 - 43
Auch dieser Ansatz wird wiederholt, führt, jedoch
nach zwei Takten durch fast atemlos wirkende Synkopa-
tionen der führenden Instrumente noch weiter weg von
dem tonalen Zentrum dieses Mittelteils.
27 44 - 47
Die intensivierte und um zwei Takte verlängerte Wieder-
holung dieser Episode geht noch weiter
28 48 - 53
sinkt jedoch alsbald zurück in das usurpierte c moll, so daß alle Versuche, nach dem anfänglichen f moll zurück-
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zukehren, als frustriert aufgegeben werden.
29 54 - 58 (1. V)
Ein paar, im dreifachen pianissimo geflüsterte chromatische Rückungen
bringen uns zurück zum E dur des Hauptteils, der nunmehr zur
Gänze rekapituliert wird, mit dem Unterschied, daß jetzt das
zweite Cello den Pastoralcharakter durch sein murmelndes
Bächlein wachruft, während die erste Geige mehr zusammen-
hängende Koloraturen beisteuert.
30 64 - 68 (2. A.)
Diese Koloraturen werden später von dem schon anfangs gehörten
Wachtelschlag abgelöst.
31 78 - 82 (1. A.)
Knapp vor Schluß noch eine Überraschung: der bedrohliche
Triller auf e beringt nochmals jenen f moll Dreiklang, als ob
ein neuer dramatischer Sturm zu erwarten wäre. Er sinkt aber
sogleich in seinen Dominant Septakkord zurück, der glücklicherweise
identisch ist mit dem übermäßigen Quintsextakkord der vierten
Stufe von E dur, in welches er sich wohlgefällig und
definitiv auflöst.
32 91 - 94
In diesem außerordentlichen Satz erweist sich
9
Der dritte Satz des 33 III 1 - 4 (1. V.)
so in Gang zu halten, daß der erste Teil des Scherzos 56, und das
ganze Stück nicht weniger als 300 Takte füllt.
Wie wir schon beobachtet haben, liebt 34 91 - 103
Auch hier wird das h als Leitton von C dur gedeutet, der H dur
Dreiklang nach bewährtem Muster in einen verminderten der siebenten
Stufe von C umfunktioniert und die Rückführung ist schnell be-
werkstelligt.
35 103 - 134
Weit drastischer ist die Halbtonverschiebung beim Einsatz des
Trios. Bisher war das Trio fast immer eine ruhigere, gemilderte
und mehr lyrische, aber nicht wesentlich kontrastierende Version
des Scherzo-Materials gewesen. In unserem 36 Trio 1 - 12
Eine Variation der absteigenden Phrase führt in chromatischer Sequenz
zurück nach C dur und bereitet die Reprise des Scherzos vor.
37 43 - 51
Der letzte Satz, bezeichnet mit Allegretto, ist ein leicht be- schwingtes, heiteres Stück, das mit einem nicht sehr aufregenden, aber hübschen Trick anfängt, der damals ab und zu an dieser Stelle angewendet wurde. Der düster bewegte Anfang mit den scharfen Synkopen in der Begleitung täuscht vor, daß man
10
einer erregungsvoll dramatischen Atmosphäre entgegenzusehen
hätte. Nach zwölf Takten springen wir nach es moll, aber die nun
schon wohlbekannte chromatische und enharmonische Manipulation
bringt das unvermeidliche C dur zu fröhlichem Durchbruch.
38 IV 1 - 26 (1. V.)
Dieses erste Thema ist vor allem charakterisiert durch die energisch
zuckende Bewegung, die wir eben gehört haben. Es kommt zu
einem Total-Abschluß auf der Tonika von C dur, und ohne jede
Überleitung setzt das freundlich-lyrische zweite Thema ein.
39 42 - 57
Es wird nach einem längeren Zögern auf der Dominante von
G dur wiederholt, wobei die tänzerischen Pirouetten, die die erste
Geige darüber ausstreut, immer brillianter werden. Sein Ab-
gesang, in dem auch wieder die Mordente auftauchen, mündet in
ein eigentümlich schleichendes Gebilde, dessen sich die oberen
drei Instrumente für einige Zeit bemächtigen. Es entsteht
eine Art Klangfläche, 40 111 - 153 (1. V.)
Aus dem Wogen erhebt sich eine treibende chromatische Linie,
die die Reprise des ersten Themas bringt. Diese ist gefolgt
von einer Durchführung, die sich logischerweise mit jenen
düster bewegten Einleitungselementen befaßt.
41 214 - 225 (1. V.)
Dasselbe Prinzip kontrapunktischer Engführung wird nun
auf eine zackig rhythmisierte Variante dieses Gedankens
angewendet.
42 233 (Auft.) - 244 (1. V.)
Jetzt wird das zweite Thema43 253 - 271
Danach nimmt alles seinen Gang wie erwartet.
Auch die großen, schleichenden Klangflächen kommen
wieder und die lange chromatische Linie, die sie
hervorbringen, führt zur letzten, beschleunigten
Reprise des ersten Themas. Diesmal bedarf es noch
weiterer chromatischer Exkurse, bevor das
befreiende, strahlende C dur erreicht ist.
44 354 - 395 (1. Halbe)
11
Eine noch schnellere Coda schließt sich an und bringt den Satz mit den zuckenden Achteln zu optimistischem Ende.
Ob das, was wir auf Grund konventioneller Assoziationen
als musikalischen Optimismus anzusehen pflegen, in
irgendwelcher Weise den subjektiven Gemütszustand des Autors
reflektiert, läßt sich in keiner Weise entscheiden. Als