A
         
         
            
               Schubert
         
         
            
               f. SWF 
Baden-Baden
            
               Es scheint, daß die Schubert-Biographen des 19. Jahrhun-
               derts einige Schwierigkeiten hatten, ein überzeugendes
               Charakterbild des Komponisten zu entwerfen. Auf
               der einen Seite schien war es gewiß wünschenswert, einen so liebens-
               würdig-gemütlichen Komponisten, dessen Porträtbüste
               ebenso zum bürgerlichen Hausrat gehörte wie seine
               bekannteren Musikstücke, als einen soliden, ehrsamen,
               fleißigen, gutgearteten und wohlgesitteten Mitbürger
               darzustellen, den jeder gern in seinem Haus empfangen
               hätte. Daß er den Mädchen gegenüber so scheu war, machte
               ihn nur noch sympathischer, da man ihn nun auch noch
               ein wenig bedauern durfte, weil er, obgleich ein so großes
               Genie, sich doch aus lauter Anständigkeit keine reguläre
               Häuslichkeit zu verschaffen wußte. Demgegenüber stand
               aber die auffallende und verdrießliche Tatsache, daß
               ein so vorzüglicher Biedermann es im bürgerlichen Leben
               zu nichts brachte gebracht hatte und als ein Habenichts dahinstarb. 
               Auch ließ es sich schwer verheimlichen, daß er sich viel
               in Wirtshäusern herumgetrieben haben muß, wenn
               man auf so drollige Details seiner Biographie, wie
               daß er musikalische Genieblitze auf die Rückseite von Speise- 
               karten zu notieren pflegte, nicht verzichten wollte.
               Sein Mangel an weltlichem Erfolg konnte auch nicht
               damit begründet werden, daß er als verkanntes Genie
               gegen den Widerstand einer verständnislosen und
               feindseligen Mitwelt nicht aufkommen konnte.
               Schuberts Musik wurde von seinen Zeitgenossen nicht
               nie als radikal, aggressiv oder skandalös empfunden,
               ja nicht einmal als besonders sensationell, obwohl
               sie  selbst für uns noch evident genug ist. Man
               hört wohl, daß jemand über die Dissonanzen im
               "Erlkönig" den Kopf geschüttelt habe, oder daß hie
            
               ihre gelegentliche Kühnheit 
            
            
            
               B
            
               und da etwas in Schuberts Musik als überladen oder kon-
               fus kritisiert wurde. In der öffentlichen Meinung hatte aber
               wahrscheinlich der alternde Beethoven den Ruf der Kühnheit,
               Abwegigkeit und Unzugänglichkeit so monopolisiert, daß davon
               für andere Komponisten nicht viel übrig blieb. Schuberts
               Kühnheiten sind nicht sensationell und wurden daher
               wahrscheinlich fast unbemerkt hingenommen. Freilich wurde
               ja auch zu seinen Lebzeiten nur ein Bruchteil seines Werkes in weiteren Kreisen
               bekannt.
            
               Es liegt als Um Schuberts verdrießlichen Mangel an bürger-
               lichem Erfolg zu erklären, liegt es also nahe, anzunehmen,
               daß er vermutlich kein sehr strebsamer Mensch war, im Sinne
               jener Strebsamkeit, die sich in der Tüchtigkeit äußert, meßbare Re-
               sultate zu erreichen. Bei genauerer Betrachtung
               gewinnt man nämlich den Eindruck, daß die mehreren
               Bewerbungen um verschiedene Amtsstellen, die Schubert von
               Zeit zu Zeit unternahm, nicht immer nur wegen der Miß-
               gunst und Unwissenheit der maßgebenden Personen
               in nichts zerrannen, sondern wohl auch deshalb, weil
               der Bewerber selbst keinen gewaltigen Eifer an den
               Tag legte und insgeheim gar nicht so enttäunscht zu
               sein schien, wenn ein anderer Versuch, ihn in eine
               bureaukratische Routine zu zwingen, daneben ging.
               Wenn ihm das dürftige Leben auch nicht behagen moch-
               te, so gefiel ihm die Freiheit von lästigen Bindungen
               augenscheinlich umso mehr.
            
               Merkwürdigerweise war er aber doch sehr strebsam auf
               einem Gebiet, wo man das kaum vermuten würde. Es
               ist auch unseres Wissens von den meisten Biographen
               Schuberts nicht besonders hervorgehoben worden, ob-
               wohl es aus der musterhaften Doku-
               mentensammlung von Otto Erich Deutsch klar hervorgeht. Das Gebiet, auf
               dem sich Schubert wirklich sehr bemühte, war zugleich das,
               wo er am wenigsten Erfolg hatte, nämlich die Oper.
            
            
               C
            
               Auch dieser Mißerfolg ist vielfach auf äußere Umstände
               zurückgeführt worden, wie etwa die im Opernbetrieb aller
               Zeiten und Gegenden herrschende herrschende Intrigenwirt-
               schaft und die besonders damals in Wien überwiegende Vor-
               liebe für die italienische Oper, vor allem Rossini. Immer-
               hin haben die meisten Beobachter zugegeben, daß
               Schubert als Opernkomponist keine glückliche Hand hatte und
               als Theatermensch mit einem Rossini gewiß nicht kon-
               kurrieren konnte. Wir werden darauf noch zu sprechen
               kommen. Auf jeden Fall ist es eigenartig, daß Schubert
               selbst nicht müde wurde, sich auf diesem so widersetzlichen
               und undankbaren Gebiet immer wieder zu versuchen,
               und diesen wenig ergiebigen Experimenten mehr Auf-
               merksamkeit zuwendete als seinen unbestrittenen Mei-
               sterwerken. Vielleicht standen lagen ihm jene so am Herzen,
               gerade weil sie Sorgenkinder waren.
            
               Ein Vorwurf, der dem Komponisten Schubert ge-
               macht wurde und der in gewissem Weise Sinne mit dem
               Mißtrauen gegen die seine untüchtige, fast liederliche
               Lebensweise zusammenhängt, besteht darin, daß er
               zwar himmlische Einfälle gehabt, aber eigentlich nicht
               gewußt habe, wie man ordentlich komponiert. Diese
               Auffassung hat sich wohl vor allem in gewissen akademischen
               Kreisen herausgebildet, wo die Großen der Musikgeschichte
               auf Grund sorgfältiger Definitionen und unhaltbarer
               Voraussetzungen in die eisernen Gitter festumgrenzter
               Kategorien eingesperrt werden. Von der abschätzigen
               Bemerkung eines Wiener Professors, daß es mit Schubert
               nicht weit her sein könne, weil er es doch nicht einmal
               zu einer fix besoldeten Stellung gebracht habe, ist nur
               ein Schritt zu der in Amerika verbreiteten Auffassung,
               daß Schubert nur Lieder schreiben konnte, weil er von
               den zur Herstellung größerer Formen notwendigen
               Künsten der Konstruktion und Durchführung nichts
               verstanden habe. Als Artur Schnabel an einem ameri-
               kanischen College, an dem ich damals tätig war, für einen
            
            
               D
            
               Klavierabend  engagiert war und für das Programm
               eine Sonate von Schubert ankündigte, drohte der Studenten-
               ausschuß, das Engagement rückgängig zu machen, da sie
               doch gelernt hatten, daß Schubert keine Sonaten schreiben
               konnte. Erst als ich die jungen Damen darauf aufmerksam
               machte, daß Schnabel, wenn er von ihrem Vorurteil wüßte,
               das seinen Besuch aufs schnellste selbst absagen würde,
               ließen sie sich eines Besseren belehren.
            
               Ein Faktor, der wohl zu den schlechten Noten beitrug,
               die Schubert in den neueren Theorieklassen bekommt, ist
               vermutlich seine relative Gleichgültigkeit gegen kunstvolle
               Übergänge. Die musikalische Formenwelt scheint für ihn
               aus lyrischen Monaden zu bestehen, die nur locker auf-
               einander bezogen sind. Ein Thema in einer Sonate
               ist ihm nicht eine mit Schicksal geladene Energie-
               zelle, deren Spannungsausgleichprozesse einen halbstün
               digen Musikverlauf bis ins letzte Detail beherrschen
               werden, wie man das bei Beethoven beobachtet,
               sondern für Schubert war ein solches Thema eher eine
               in sich geschlossene lyrische Einheit, von der man, wenn
               sie fertig war, ohne viel Umstände zu einer anderen
               fortschritt. Sein ganzes liebevolles Interesse, seine
               ganze Phantasie und großartige technische Meister-
               schaft ist auf das konzentriert, was im Innnern einer
               solchen in sich geschlossenen lyrischen Einheit vorgeht.
            
            
               1
            
               Wenn wir uns jetzt den Beispielen zuwenden, mit
               denen ich einige der besonders faszinierenden Züge von
               Schuberts Kompositionskunst illustrieren will, so mag wird es,
               aufallen im Licht meiner Bemerkungen, kaum Wunder nehmen, daß ich  dazu  ausschließlich Lieder von Schubert
               benützen werde, obgleich ich keinerlei Gesangskräfte zur
               Hand habe und den Hörern gewiß  nicht  zumuten
               will, etwa eigene Versuche in dieser Richtung zu erdulden.
               Ich werde also in den folgenden Beispielen die Töne der Sing-
               stimme jeweils in den Klavierpart so gut wie möglich
               einbeziehen. Ich will das deshalb tun, weil sich gerade
               an dem gewöhnlich mit emotionellen Nebenbedeutungen
               überbesetzten lyrischen Schaffen Schuberts seine komposito-
               rische Meisterschaft besonders deutlich ablesen läßt, sowie
               man von dem Anliegen von Aussage und Ausdruck ab-
               sieht.
            
               Lassen Sie uns mit etwas sehr Einfachen beginnen. Hier
               ist das Lied "An die Nachtigall", komponiert 1816 nach einem
               Text von Matthias Claudius. Schubert war damals 19 Jahre alt
               und das Lied macht gewiß den Eindruck jugendlicher Unbefangen-
               heit. ex. 1 IV 96 Tonsprachlich gibt es keine Probleme
               auf. Daß die vorletzte Phrase nach der gleichnamigen Mollton-
               art wechselt, ist gemeingut des Zeitstils. Was erstaunlich ist
               an dem kleinen Lied, ist seine Form. Abgesehen von Repetitionen
               innerhalb der einzelnen Phrasen, wiederholt sich hier nichts.
               Ein Gedanke folgt dem anderen, aber das Folgende bezieht
               sich nicht zurück auf das Vorhergegangene. Die berühmte drei-
               teilige Liedform - ABA, mit kontrastierendem Mittelteil
               und abschließender Wiederholung des Anfangs, gewöhnlich
               als Musterbeispiel der Liedkomposition dargestellt - ist
               völlig beiseite gelassen. So wie es heißt, daß in der Sprache
               "ein Wort das andere gibt", so produziert hier eine mu-
               sikalische Gestalt die andere, überzeugend im Vorwärts-
               gehen und ohne rechtfertigenden Rückblick. Jedoch schon
               hier läßt sich eine andere Eigenart des Schubert-Stils be-
               obachten. Wie schon gesagt, gibt es lokale Wiederholungen
            
            
               2
            
               innerhalb der Phrasen. Jedes Sie sind aber selten wörtlich
               und niemals mechanisch. Lassen Sie mich die letzten vier
               Takte, das Nachspiel des Liedes, nochmals zu Gehör bringen.
               Es besteht aus einer zweitaktigen Phrase, die wiederholt
               wird. In der Wiederholung aber ist in der rechten jeder Hand je
               ein Ton verändert. Langsam nochmal diese vier Takte.
               ex 2
            
               Das nächste Beispiel ist das Lied "Wehmut".  Auch hier
               entsteht die Form durch Aneinanderreihung von stets neuen
               Gedanken. Was zunächst als kontrastierender Mittelteil an-
               muted - die dramatisch gesteigerte Tremolo-Stelle, ist von
               keiner Reprise gefolgt, sondern von dieser einer sich unmäßig
               verbreiternden neuen Gestalt.
               ex. 3 Wehmut, III. 15
            
               In dem sogenannten Mittelteil der dramatischen Tremolo-Passage lernen wir ein Kunst-
               mittel kennen, das für Schubert von höchsten Bedeu-
               tung ist, nämlich die enharmonische Umdeutung. Das
               ist, um es laienhaft auszudrücken, ein Trick, der es er-
               möglicht, durch alle Tonarten im Kreis zu wandern und
               dem zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Daß es gelingt,
               verdanken wir der sogenannten gleichschwebenden Tem-
               peratur, d. h. jener Anordnung der Töne, wie wir
               sie etwa auf unserem Klavier haben, wo es für fis und
               ges, oder cis und des nur je eine Taste gibt. In dem
               Lied "Wehmut" geht Schubert von der Tonika d-moll
               ex
               zur 6. Stufe — B dur ex — er deutet diese als Domi-
               mante von es moll. Den Es moll Akkord deutet er wieder als
               3. Stufe von Ces dur ex, aber den Ces dur Akkord, der
               eigentlich 7 b´s haben müßte, notiert er als H dur. Das
               ist nun nichts weiter als die Dominante von e moll ex
               und e moll ist die 2. Stufe von d moll, das nun ganz
            
            
               3
            
               leicht über seinen Dominantakkord erreicht wird
               ex Es ist, als ob man zu einer Weltumsegelung auf-
               gebrochen wäre, aber irgendwo von den Antipoden blitz-
               schnell durch den Mittelpunkt der Erde unversehens
               zum Ausgangspunkt zurückgeschwenkt wäre. Diese Pro-
               zedur war  theoretisch seit der Ausbildung der gleich-
               schwebenden Temperatur, also über hundert Jahre vor Schu-
               bert, zur Verfügung, aber erst durch ihn wird sie  zu jener
               Entfaltung bis dahin ungeahnter harmonischer Farben-
               pracht benützt, die zum hemmungslosen Durchgleiten
               der ganzen Regenbogenskala im "Tristan"-Stil führt.
               In dem Lied "Auflösung" wird der ganze mittlere
               Teil um einen halben Ton aufwärts verschoben, von
               G dur nach As dur. ex. V, 196
            
               Den Vorwand zu dieser Verrückung des tonartlichen
               Plateaus bildet die sogenannte neapolitanische Sext,
               jene Abänderung der 2. Stufe der Mollmodalität
               - statt  wird  gesetzt - die auf die tief eingewurzelten
               Bedenken der mittelalterlichen Theoretiker gegen den Tritonus
               zurückgeht. Also: As dur ist die neapolitanische Sext
               in G dur, und das genügt, um den ganzen Mittelteil
               unseres Liedes dorthin zu verschieben. Die Rückführung
               ist nicht weniger rücksichtslos. Zunächst geht es enhar-
               monisch von As dur nach H dur. Dieses wird nun offenbar
               als Dominante von e moll, und dieses als 6. Stufe von
                G dur aufgefaßt. Jedoch, das e moll erscheint gar nicht,
               und man kommt ohne Umweg zurück zur Anfangstonart.
               ex
               ex
            
               Eine Ausweichung, die sich nicht einmal durch
               Elision theoretisch begründbarer Zwischenstufen er-
               klären läßt, ereignet sich im Lied "Fülle der Liebe"
               ex. III 193
            
            
               4
            
               Man hat es hier gewiß mit einem frühen Phänomen aus jenem
               Randgebiet zu tun, das die späte Romantik so ausgiebig
               kultiviert hat, wo nämlich expressive Schockwirkungen hoher
               Intensität dadurch zustande kommen, daß ein Material, dessen
               traditionelle Zusammenhänge noch als völlig präsent im Bewußt-
               sein des Hörens vorausgesetzt werden können, aus diesen
               Zusammenhängen herausgebrochen und in ungewohnte,
               unerklärbare Kontexte gebracht wird. Es liegt auf der
               Hand, daß dadurch das Material selbst immer mehr aus-
               gehöhlt wird. Schließlich werden die Dreiklänge und ver-
               minderten Septimenakkorde, mit denen Schubert auskommt,
               nicht mehr genügen, um die Schockwirkungen zu erzielen,
               die er als so wünschenswert erscheinen machte. Von
               hier führt ein gerader und nicht sehr weiter Weg zur
               Atonalität. In dem Lied "Waldesnacht" kommt es
               zu harmonischen Rückungen, die sich mit Hilfe der tra-
                ditionellen Theorie nur mühevoll erklären lassen.
               ex. III 159
            
               Der D dur Klang, der zwischen Tonika und Dominante
               von Es dur steht, läßt sich selbst in die der als bequemes
               Sammelbecken aller Arten von Unregelmäßigkeiten geschaf-
               fenen Kategorie der Zwischendominanten kaum
               unterbringen. Er ist und bleibt ein tonaler Fremdkörper. In dem
               Lied "Gruppe aus dem Tartarus" endlich bricht die to-
               nale Kontrolle praktisch ganz zusammen. Wohl ist
               das harmonische Material durchaus das der traditi-
               onellen Tonsprache, aber das unaufhörliche chromatische Ge-
               schiebe erlaubt nur zwei kurze Ausbreitungen Haltepunkte auf den
               sonst nicht relevanten Tonarten d-moll und fis moll,
               und selbst die C Tonalität, mit der das Lied endet,
               wird nicht so sehr als Ziel empfunden denn als
               ein neuer Herd von Unruhe.
               ex. II 61
            
            
               5
            
               Vielleicht weniger spektakulär als diese harmonischen
               Explosionen, aber umso raffinierter sind die metrischen
               Manipulationen Schuberts. Wie bekannt, basiert die
               tonale Musik jenes Zeitalters auf symmetrisch aufge-
               bauten Periodenbildungen, in denen sich Phrasen von durch
               zwei teilbaren Taktzahlen die Waage halten. Als Beispiel
               für diese millionenfach vertretene Norm nochmals die Ein-
               leitung der "Nachtigall", die wir eingangs kennen lernten.
               ex. IV - 96
            
               Als Gegenbeispiel für die subtilen Unregelmäßigkeiten, die
               Schubert in die Periodenbildung einführt, hören wir
               eine Stelle aus dem "Schatzgräber". Hier stehen zunächst
               zwei Takte: ex. IV 22 gegen zwei, einhalb ex
               Diese sind gefolgt von einer echten zweieinhalbtaktigen
               Phrase. ex Die Ausdehnung ist motiviert durch die mit
               Hilfe von Akzenten eigens hervorgehobene Wiederholung
               des d. ex. Der nächste Abschnitt bringt Beruhigung:
               zwei ausgewogene zweitaktige Phrasen: ex. Schon
               folgt aber wieder die drängende, akzentuierte Wiederholung
               und schafft eine Ausdehnung auf 2 ½ ex. Die nächste
               Wiederholung ist überraschender Weise auf die einen normalen
               Zweitakter verkürzt ex, dafür produziert aber
               die  vierfache, heftig akzentuierte Wiederholung in der
               Schlußphrase eine Ausdehnung auf 3 ½ . ex
               Wunderbare metrische Arbeit enthält "Der Zwerg". Hier
               wird zunächst als Norm eine sechstaktige Phrase aufgestellt
               ex II 55
            
               Mit dem Einsatz der Singstimme wiederholt sie sich und
               befestigt so die Sechstaktigkeit. ex Die Wiederholung dieser
               Phrase reduziert sie jedoch auf 5, und die ex und
               die Abschlußphrase hat knappe 4 Takte ex.
            
               denen ein halber Takt als
               Zwischenspiel zugegeben ist:
            
            
            
               6
            
               Die zweite Strophe hat wieder einen Fünftakter ex,
               und wenn es im Text heißt: "Hinauf zur lichtdurchwirkten
               blauen Ferne, die mit der Milch des Himmels bloß durch-
               zogen", so haben wir zwei herrlich schwebende ausgegli-
               chene Viertakter ex. Das Drama des Gedichtes wird von
               einer viertaktigen Phrase eingeleitet ex, doch ist sie
               sogleich von einer dramatisch verkürzten dreitaktigen
               gefolgt. ex Noch kürzer: nur zwei Takte ex und vier
               zum ruhigen Abschluß ex, und so geht es fast durch
               das ganze lange Lied. Die Flexibilität, mit welcher
               hier asymmetrische Elemente in fortgesetzt fließendes,
               lebendiges Gleichgewicht gebracht sind, kann nicht
               genug bewundert werden.
            
               Ein liebliches Beipiel für das schwebende Gleich-
               gewicht ist, "Das Rosenband". Hier gibt es zunächst zwei
               ganz schlichte zweitaktige Phrasen ex V 160, denen
               ein gedehnter Dreitakter folgt ex. Die Dehnung wird
               durch eine noch stärkere Dehnung gerechtfertigt — fünf
               Takte ex. Die zweimal zwei Takte der Abschlußphrase
               mit ihrer gleichmäßigen Verteilung der rhythmischen Werte
               stellen die Ruhe wieder her. ex Es lohnt sich, nochmals das
               in drei plus fünf Takte gegliederte Mittelstück unter die
               Lupe zu nehmen. Zunächst ergibt ist drei plus fünf gleich acht,
               so daß das Mittelstück mit den vorangehenden und folgenden
               Viertaktern das ganze Lied doch auf die Normalzahl 16
               bringt. Reizvoll ist, daß die erste Phrase des Mittelstückes
               nämlich die kurze dreitaktige, mit den langen Noten
               endet, und daß die längere fünftaktige mit diesen
               anhebt. ex Dadurch wird von dem Fünftakter
               ein mit dem Zweitakter korrespondierendes zwei-
               taktiges Glied abgetrennt, während sich die Bewegung
               dann in den zu einem Höhepunkt drängenden übrig
               , drei Takten zusammen konzentriert.
            
               übrigbleibenden,
            
            
            
               7
            
               Ein Höhepunkt des Raffinement ist erreicht in dem
               großartigen Lied "Delphine", einer Soloszene aus dem Schau-
               spiel "Lacrimas" von Wilhelm von Schütz. Hier wird als me-
               trische Grundgestalt eine Kombination von 2 plus 1 Takten
               aufgestellt, die dem hektischen Ton der Dichtung besonders
               entspricht. ex II 126. Die Figur wird sogleich wieder-
               holt, um sich als Norm zu etablieren ex. Sie ist dann
               gefolgt von einer Ausdehnung auf 3 plus 1 ex. Das ist
               wohl eine viertaktige Phrase, aber weit entfernt von
               der sonst als normal geltenden Viertaktigkeit. Hier ist wird
               der Viertakter deutlich als Unregelmäßigkeit empfunden.
               Ein leichter Einschnitt artikuliert die folgenden Sechs
               Takte in zwei symmetri Dreier. ex. Die abschließenden
               vier Takte erst haben den Charakter normaler Sym-
               metrie ex. Die nächste Strophe gewinnt ihre drastische
               Dramatik aus dem so klug aufgestellten Grundmuster
               2+1. Zunächst wird dieses in Erinnerung gerufen ex, 
               dann geht es aber sofort weiter mit drängendem Auf-
               takt, und es folgt 2 plus 1 plus 1 plus 1 plus 1 plus 1.
               ex Das atemlose Absinken in den fünf isolierten
               Einzeltakten wird später zu einem Grundmotiv
               des abwechselnd himmelhoch jauchzenden und morbid
               verzitternden Liedes. Die 2 plus 1 Gestalt wird noch-
               mals abgewandelt als 2 plus 2, indem das als Einser
               bekannte Partikel gedehnt wird. ex p. 129 Ein
               ritardando bekräftigt das. Zum Schluß des Liedes
               wird die Idee dieser Ausdehnung des erst so hektisch
               atemlosen Einsers zu zwei wilden Ausbrüchen
               gesteigert. Hier kommt zunächst wieder 2+1 ex p. 130
               wird aber gefolgt von einem das Metrum sprengen-
               den 2 plus 4 ex. 130. Die Coda wird noch aus-
               fahrender: zunächst zweimal 2 + 1. ex. gefolgt von
            
            
               8
            
               fünf. ex. Die Wiederholung bringt wieder zweimal
               2 plus 1 ex, aber nun den größten Ausbruch: 2 plus
               5, der auch die Singstimme zum hohen C hinauf-
               treibt ex.
            
               Während die Betrachtung von Schuberts Liedern vom
               Standpunkt der Kompositionstechnik ein sehr klares
               Bild seiner Erfindungsgabe und Meisterschaft vor allem
               auf in den Sektoren der Harmonik und Metrik vermittelt,
               ergeben sich manche schwerer zu durchschauende Probleme,
               wenn man die Beziehung des Komponisten zu den von
               ihm gewählten Texten untersucht. Neben der unge-
               heuren Anzahl von der Liedern, die schon seit jeher das Er-
               staunen aller Beobachter erregt hat, fällt  in der
               Auswahl der Texte eine Breite des Geschmacks auf, die
               an Wahllosigkeit grenzt. Die mehreren hundert Gedichte,
               die Schubert komponiert hat, bilden einen Querschnitt durch
               die deutsche Literatur der Zeit, der von der leuchtenden
               Oberschichte der Goethe, Shakespeare, Schiller, Klopstock in unwahr- 
               scheinliche Tiefen reicht, die ohne Schuberts Vertonungen
               vermutlich im Dunkel der Vergessenheit schlummern
               würden. Da ist vor allem der erstaunliche Johann
               Nepomuk Mayrhofer, der, um in seinem Stil zu sprechen,
               den Pegasus als Steckenpferd reitet und dessen parnassische
               Ergießungen die Haupt wichstigste der kastalischen Quellen speisen, aus denen sich Schuberts
               durstige Muse ihre, schöpferischen Letzungen holt. Mayrhofer hat nicht 
               nur fast die ganze Mythologie in lyrischen Momentaufnahmen
               festgehalten, wovon solche Titel
               wie Mamnon, Orest, Philoetet,
               Antigone und Oedip, Atys, Heliopolis Zeugnis ablegen,
               sondern hat sich auch oft in gemütvolle Genrebilder
               vertieft, die zu kostbaren Sprachblüten Anlaß geben.
               So gibt es z. B. ein Gedicht "Sehnsucht":
               II  22
            
               /3
            
            
               zweifellos ein hochgelehrter 
               und wohl belesener Herr,
            
            
            
               9
            
               Daß dem eifervollen Studenten der Mythologie auch
               frivolere Töne zur Verfügung stehen, zeigt ein "der
               zürnenden Diana" gewidmetes Gedicht.
               II 75
            
               Vom Übermut des Profssors angesteckt, konzipiert Schubert
               eine Phrase, die mehr danach klingt, als ob er den Wiener
               Wäschermadeln auf die feschen Wadeln ge-schaut hätte als auf das
               ohne Schleier strahlende Himmelsweib.
               II 76
            
               Eine für Mayrhofer in ihren Trübsinn typische tiefsinnige Betrachtung ent ist
               hält der Gegenstand des Gedichtes "Wie Ulfru fischt",
               wo schon der abwegige Name des mythischen Fischers auf
               eine besonders obskure Sphäre hindeutet.
               IV 16
            
               Auch das kurze Gedicht" Der Abendstern" enthält ir-
               gendwie abgründige und auf eigenartige astronomische
               Überlegungen gegründete Philosophie:
               V 133
               Daß Mayrhofer ein schwermütiger Mensch war,
               der seinem Leben selbst ein Ende setzte, ist
               gewiß zu bedauern. Es erklärt wohl den 
               Es muß jedoch neben Mayrhofer eine Reihe von 
               ähnlichen Sprachgenies gegeben haben, nur sind sie bei
               Schubert nicht so reichlich vertreten. Hier ist einer, der heißt
               Kenner, und seine Poetik ist gewiß etwas für Kenner. Schon
               der Titel eines Gedichtes "Der Liedler" erweckt Neugier.
               Es zeigt sich später, daß der ein Liedler offenbar ein professioneller
               Liedersänger ist. Seine Tragödie fängt so an:
               IV nur 33
            
               Er irrt umher, "den Tod sich zu erstreiten", aber das gelingt
               nicht, und er kehrt zurück, wo die edle Maid Milla, für die
               er zu schlecht war, einen ebenso edlen Ritter heiraten
               soll. Die Sache geht übel aus:
               IV 41 - 44
            
               Die ernste Frage ist, wie ein Komponist vom Range Schuberts
               sich dazu entschließen konnte, auf diesen von Bürger in-
               spirierten dilettantischen Schwulst etwa 600 Takte Musik
               zu verschwenden.
            
               Derselbe Kenner hat sich an einem "Fräulein versucht,
               das schaut vom hohen Türm"
               IV 152
            
               morbiden Ton vieler seiner
               Gedichte, erhöht jedoch leider
               nicht ihre sprachliche Würde.
            
            
            
               10
            
               Eine Freifrau Caroline Louise von Klenke läßt die
               emotionelle Temperatur verwegen in die Höhe gehen:
               "Heimliches Lieben":
               IV 104
            
               Wiederum gibt es zu denken, daß Schubert sich 1827, also
               zu einer Zeit, da er nach der Ansicht vieler Biographen
               seinem nahe bevorstehenden Tod ins Auge sah, von diesem
               eher kitschigen Erotikon angeregt fühlte. Vielleicht
               hat ihn dessen einziger origineller Zug, die verkürzte
               letzte Zeile in jeder Strophe, interessiert. Jedenfalls ist
               die Musik zu diesem wollüstigen Erguss für Schubertsche
               Verhältnisse eigentümlich kühl und gelassen.
               Jenun, Schubert hat auch das folgende Gedicht in das
               Stammbuch eines Freundes komponiert:
               V 169
            
               Der Dichter heißt - Franz Schubert.
               Wir wollen uns hier weder über Schubert noch über die
               unglücklichen Dichterlinge lustig machen, die ja gar nicht
               ahnten, daß sie durch ihn einer lästernden Nachwelt
               zur Schau gestellt werden würden. Was uns interessiert,
               ist, wieso ein Mann von Schuberts Kaliber sich von solchen
               Reimereien zu unausgesetzt erneuerten schöpferischen
               Anstrengungen gereizt fühlen konnte. Es läßt sich kaum
               anders erklären als durch die Annahme, daß er bis
               zu völliger Widerstandslosigkeit an-
               regbar war. Ob Goethe, Schiller,
               Seidl, Collin, Schober, oder schließlich
               Mayrhofer - wer immer vom Fischen, vom Wasser, von
               den Fischen Kähnen und den Wellen dichtete, Schubert
               konnte nicht widerstehen, und hatte
               ein neues Exemplar aus dem unerschöpflichen
               Katalog seiner Wassersymbole herbeizuschaffen.
               Seine Musik leuchtet, wie die Sonne über Gerechte
               und Ungerechte; und das Sprudelgehudel eines
               Winkelpoeten ist ihm ebenso willkommener Anlaß
               zu musikalischen Wasserpantomimen wie das ma-
               jestätische Gewoge eines Dichterfürsten.
            
               sein besonderes Talent
               für die Darstellung
               musikalische Sym-
               bolisierung
            
            
               Schulze oder Müller,
            
            
            
               11
            
               So weit wir es überblicken können, ist noch nicht oft
               beobachtet worden, eine wie große Zahl von Schuberts Liedern
               in Wirklichkeit musikdramatische Vorstudien zur Oper
               darstellen. Das zeigt sich am deutlichsten in den umfang-
               reichen Gesängen zu den Texten aus "Ossian", obwohl auch
               manche andere Lieder, etwa die Fragmente aus Goethes
               "Faust", dialogische Behandlung und dramatische Gestiku-
               lation aufweisen. Die Ossian-Gesänge, die über sechzig
               enggedruckte Seiten füllen, sind viel zu lang, um im
               Detail besprochen zu werden. Es läßt sich jedoch sagen,
               daß die bei Schuberts  vorherrschende formale Disposition dieser
               mehr oder weniger dramatischen Dialoge auf eine Ab-
               wechslung zwischen Recitativ und Arioso abzielt, wobei
               sich die beiden Ausdrucksformen quantitativ ungefähr
               die Waage halten. In dieser Hinsicht Darin ist Schuberts
               dramatischer Stil in eben dem Grad fortschrittlich als er
               sich rückwarts zu orientieren scheint an den Modellen
               des alten großen Monteverdi. Schuberts eminentes großes Talent
               für wendiges Manövrieren im tonalen Raum kommt
               seinem offensichtlichen Wunsch nach äußerster Sensibilität
               in der Ausdeutung schnellen wechselnder, subtiler Regungen
               sehr entgegen, und seine metrische Flexibilität
               macht die ariosen Abschnitte biegsam und abwechs-
               lungsreich genug, um sie der harmonischen Unruhe
               der Recitative anzugleichen.
               ex
            
               Wenn man sich zu erklären versucht, warum Schu-
               bert trotz so vieler musikdramatischer Erfindungs-
               gabe und so heißem Bemühen auf dem musikalischen
               Theater innerlich wie äußerlich erfolglos blieb, so läßt
               sich vielleicht sagen, daß etwa die mit wirklicher Phan-
               tasie behandelten Ossian-Texte einigermaßen ge-
               schwollene Literatur sind, an welcher den Komponisten
               vermutlich in ersten Linie die Naturbilder reizten. Daß
            
            
               12
            
               Daß sich —  für uns unbegreiflichenweise —  doch ein weiteres
               Publikum für diese Geisterbeschwörungen auf der
               schottischen Heide interessiert haben muß, beweist das
               Faktum, daß der als geschäftstüchtig genug bekannte
               Wiener Verleger Diabelli einige der unvollendet ge-
               bliebenen Ossian-Szenen nach Schuberts Tod mit Frag-
               menten aus anderen Kompositionen von Schubert auf-
               füllte, um sie an den Kunden zu bringen.
            
            
               Auf der anderen Seite scheint es, daß Schubert, wenn
               er wirklich für die Bühne schrieb, irgendwelchen Hem-
               mungen unterworfen war, die seinen theatralischen
               Arbeiten ein unglückliches Element von Hausbackenheit
               und Pedanterie aufzwingen.
            
               Wenigstens ein kurzes Beispiel aus dem schier langen
               endlosen Elaborat "Der Tod Ossians" Ossian-Gesang "die Nacht" mag Schuberts
               Arbeitsweise illustrieren
               ex. IV 162
            
               Gewiß handelt es sich hier bei den Ossian-Liedern um ein Jugendwerk
               des Zwanzigjährigen, aus dem Jahr 1817, aber ge-
               messen an der kurzen Spanne seines Lebens, ist das hier
               schon ein Stadium gewisser Reife erreicht. Diese
               Ossian - Dichtungen Texte erscheinen uns gewiß als schwülstige
               Pseudo-Literatur und wir glauben zu verstehen, daß eine
               musikalisch-dramatische Befassung mit ihnen
               kaum sehr ergiebig sein wird.
            
               Dabei hat  Schubert  diese düsteren Schauerszenen,
               in denen sich Recken und Barden des nebligen Nordens
               in blutige Stücke hauen, bevor ihre Geister den nächt-
               lichen Hügel der Hirsche unsicher machen, mit
               viel wirklicher Phantasie musikalisch ausgestal-
               tet. Freilich sind es fast immer die Naturelemente, die
               seine Erfindungsgabe anregen — "der Strom des Berges
               erbraust"
               ex. p. 163
            
               8
            
            
            
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               - "vom Baum beim Grabe der Toten tönt der Eule
               klagender Sang"- ex. p. 164 - "die verwelkte,
               zum Knäuel verworrene Klette treibt der Wind über
               das Gras "- p. 166 "es ist der leichte Tritt eines
               Geists" p. 166. Von einer Charakterisierung der
               Personen, die in diesen balladesken Dialogen auftreten,
               ist freilich viel weniger zu bemerken. Ob Shilrik oder
               seine Geliebte Vinvela, ob die feindlich-freundlichen
               Brüder Oscar oder Dermid singen, läßt sich musi-
               kalish kaum unterscheiden.
            
               Über die innere und äußere Erfolglosigkeit des
               Theaterkomponisten Schubert ist schon so viel nachgedacht und
               geschrieben worden, daß weitere Erklärungsversuche
               sich erübrigen dürften. Jedoch, da alle Theorien
               dieser Art spekulativ sind und an einer an sich
               bedauerlichen Tatsache nichts ändern, so mag hier
               eine weder mehr noch weniger stichhaltige riskiert
               werden. Ein Vergleich mit Beethoven und Mozart wird uns
               dem Gegenstand vielleicht näher bringen. Kaum jemand dürfte
               zögern, Beethoven einen dramatischen Komponisten zu nennen.
               Seine Sinfonien sind Monumente gewaltiger Spannungen,
               voll von explosiven Kontrasten kraftgeladenen Anti-
               thesen, die das tragische Aufgewühltsein des Menschenlebens
               symbolisieren wie kaum ein künstlerisches Bekenntnis
               seit Michelangelo oder Shakespeare. Und doch hat
               dieser Komponist nicht vermocht, seine ausgesprochenen
               dramatischen Impulse auf der Opernbühne zu über-
               zeugender Wirkung zu bringen. Die große und mehrfach
               unter Schmerzen wiederholte Austrengung des "Fidelio"
               ergibt einige wundersame Musikstücke, aber keinen
               mitreißenden dramatischen Fluß. Schon der Entschluß,
               ein so unmögliches Libretto wie den Fidelio in Musik
               zu setzen, verrät eine souveräne Gleichgültigkeit gegenüber
            
            
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               den elementaresten Anforderungen der Musikbühne.
               Aber gerade dieser Entschluß macht Beethovens Inter-
                durchaus klar, was Beethoven interessiert hat,
               wenn er sich dem Operntheater zuwandte. Ihn bewegte
               der Mensch, als Repräsentant der Menschheit aber
               nicht die Menschen, als Individuen. Das Drama, das
               er im "Fidelio" sah, war der universelle Konflikt
               zwischen Freiheit und Tyrannei, zwischen Angst und
               Liebe. Darum ist ja wohl auch der stärkste Moment im
               "Fidelio" der Gefangenenchor.
            
               Im Gegensatz zu Beethoven ist Mozart ein theatralischer
               Komponist, dessen Interese an den zahllosen Individuen,
               die Gottes großen Tiergarten ausmachen, unerschöpflich ist.
               Man hat den Eindruck, daß es ihn wenig interessiert, ob
               Leporello ein gewisses ethisches oder soziales Prinzip
               symbolisiert — was ihn zu den wundersamsten Erfin-
               dungen bei der musikalischen Ausstattung dieser Partie bewegt, ist
               seine unaufhörliche Freude an der Vorstellung, was dieser
               Leporello doch für ein saftiger Kerl ist, wieviel
               gefühlsmäsige und idiomatische Nuancen in ihm stecken,
               wie er sich wohl in dieser oder jener Situation benehmen
               wird, kurzum, was für ein Individuum er ist. Das sind
               die Züge, die einen wirklichen Theaterkomponisten ausmachen.
               Man findet sie wieder bei Verdi und Puccini, in etwas
               anderer Ausprägung auch bei Wagner.
            
               Das Schubert hingegen scheint sich mit den Charakteren, die
               ihm die dramatischen Sujets bieten, kaum irgendwie zu
               identifizieren, und gerade darin liegt wohl der wesentliche
               Unterschied zwischen dem Dramatiker und Theatraliker
               einerseits und dem Lyriker andrerseits. In einem
               gewissen Sinn ist der Lyriker objektiver als die beiden
               anderen, da er die menschlichen Gemütszustände und Gefühls-
            
            
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               regungen, die die Gegenstände seiner künstlerischen Gestal-
               tung sind und ihn zu dieser anregen, von dem einmaligen,
               individuellen Subjekt, in welchem sie sich manifestieren, ab-
               löst und gewissermaßen abstrakt darstellt. Das lyrische
               Subjekt der Müller-Lieder ist kein bestimmter Müllerbursche,
               den eine  emotionelle Enttäuschung auf die Wan-
               derschaft schickt —  wir wissen nichts über seinen Charakter,
               über die Wesenszüge seiner Persönlichkeit, die den Konflikt mit
               der völlig unbekannt verbleibenden schönen Müllerin her-
               aufbeschworen haben mögen, wir erfahren nichts über die
               Situationen, die die Enttäuschung, den Bruch und den
               Entschluß zum Wandern herbeigeführt haben —  lauter
               Dinge, die für eine dramatische Gestaltung des Stoffes von
               wesentlichem Interesse wären. Wir wissen ebensowenig über
               den Anonymus, der sich auf die traurige Winterreise be-
               gibt, und die unzähligen Fischer, Jäger, Krieger, Dichter,
               Schiffer, Ritter, Nonnen, Reiter, Wanderer, die Unglücklichen, Einsamen, Jünglinge und Greise,
               die Schuberts lyrische Welt be-
               völkern, sind ungreifbare Schatten und völlig unpersön-
               lich. Freilich Sie sind Träger von Empfindungen, und
               diese freilich leben herzergreifend und schwingen in
               jedem Ton der zauberhaften Musik, zu der sie An-
               laß gaben. Der pragmatische Hintergrund dieser Emp-
               findungen ist oft unerheblich obskur, banal, kleinlich, lächerlich,
               aber auf jeden Fall unerheblich. Darum tut es auch
               uns so wenig nichts zur Sache, wie es offenbar auch Schubert
               nicht bekümmerte, daß die Empfindung in vielen Fällen in
               einer abgeschmackten und beinahe albernen sprachlichen
               Fügung ausgesprochendrückt war. Ihn intereressiert es
               wenig, warum und wodurch ein Mensch enttäuscht wurde, und noch
               weniger, was das für ein Mensch das ist, sondern nur, welche
               Nuancen und Gefühlsschwebungen sich als Reaktion er-
               geben, wenn der enttäuschte Mensch auf einen gefrorenen
               Fluß starrt.
            
            
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               Merkwürdigerweise treten die Konturen individueller, konkre- 
               ter Persönlichkeit noch am ehesten hervor in manchen jener
               Lieder, die vom Dramatischen am weitesten abstrahiert sind.
               Jenes große Lied "Delphine", das wir früher betrachtet haben,
               hat starke gestische Momente und eine Direktheit der Aus-
               drucksintensität, mit denen eine Bühnendarstellerin schon
               viel anfangen könnte. Ein anderes, aus dem selben Drama
               "Lacrimas" exzerpiertes Lied, "Florio", hat ähnliche Züge.
               Auch der Dialog zwischen dem Zwerg und der Königin in
               der Ballade, die wir besprochen haben, hat theatermäßige
               Eindringlichkeit und weist den beiden Partnern klar pro-
               filierte Ausdruckscharaktere zu. Damit verglichen wirken
               die Ossian-Gesänge, die wirklichen dramatischen Dialog
               enthalten, trotz des Farbenreichtums ihrer Naturillu-
               strationen merkwürdig steif, und das trifft noch mehr
               zu auf Schuberts direkte Opernversuche.
            
               Man könnte sagen, daß sein unvergleichliches Genie
               sich in der Momentaufnahme der Gefühlsbewegungen
               erschöpfte. Er kann die selbstverzehrende Qual der
               liebenden Delphine darstellen wie kein anderer, weil
               sie für ihn keine Geschichte hat. Wir wissen nicht, was
               sie in den von uns Schubert beobachteten Moment gebracht hat,
               und wir wissen nicht, was aus ihr werden wird, und
               der Komponist weiß es ebensowenig. Es scheint, als ob es
               seine Beobachtungs- und Erfindungsgabe lähmen würde,
               wenn er mit der Kontinuität eines dramatischen Verlaufs,
               mit den Verstrickungen in der Zeit sich entwickelnder Schick-
               sale und mit dem geschichtlichen Werden von Persönlich-
               keiten konfrontiert wird. Vielleicht hat das seine die Hemmungen
               verursacht, die man in seinem Opernschaffen spürt und die die-
               sem die Überzeugungskraft genommen haben. Wir haben uns
               dabei über keinen Verlust zu beklagen, denn wir sind mit
               dem, was er uns gab, reicher beschenkt als wir verdient
               haben. Wenn wir diesen Fall besprechen und bedauern, so
               geschieht es nur, weil Schubert selbst sich so sehr um die
               Oper bemüht hat und weil ihm jeder zusätzliche Grad
               von persönlicher Befriedigung zu gönnen gewesen wäre.