Aus Lothar Knessls Führer durch Ernst Kreneks Bühnenwerke

Orpheus und Eurydike

Oper in drei Akten op. 21 (1923)

Text
Schauspiel von Oskar Kokoschka


Verlag / Rechte
Universal Edition
LM / KA UE 8153 / TB UE 8154


Dauer
105 Minuten


Uraufführung
27. November 1926
Staatstheater Kassel

D Ernst Zulauf
R Paul Bekker
B Paul Schönke


Aufführungen
Konzerthaus Berlin (2010, halbszenisch), Teatro Real, Madrid (2008), Staatstheater Kassel (1992, im Rahmenprogramm der Documenta IX), Felsenreitschule, Salzburg (1990, konzertant, Salzburger Festspiele), Oper Graz (ÖEA, 1973), Wiener Konzerthaus (1968, konzertant)


Aufzeichnungen
2010, nmzMedia: Orpheus und Eurydike, Mitschnitt Konzerthaus Berlin, 2 CDs und 2 DVDs. D Lothar Zagrosek; R Karsten Wiegand; Konzerthausorchester Berlin, Ernst Senff-Chor; Orpheus: Daniel Kirch, Eurydike: Brigitte Pinter, Psyche: Claudia Barainsky u.a.
1968, ORF-Mitschnitt. D Ernst Krenek; Orchester des Österreichischen Rundfunks, ORF Chor; Orpheus: Ivo Zidek, Eurydike: Gerda Scheyrer, Psyche: Laurence Dutoit u.a.


Besetzung
Orpheus (T), Eurydike (S), Amor (stumme Rolle), Psyche (S), erste, zweite, dritte Furie (MS), 4 kleinere Partien
Chor – 3.2.4.3 – 6.4.3.1 – Timp, 3 Perc – Hfe – Str


Themenkreise
Tragödie des Misstrauens
Letaler Eifersuchtswahn
Willkür und zerstörerischer Mythos


Entstehung
Oskar Kokoschka skizzierte das Schauspiel im Herbst 1915 im Lazarett. Die erlittenen Kriegsverletzungen traumatisierten ihn, verursachten Halluzinationen, die das Theaterstück prägten (UA 1921, Städtisches Schauspielhaus Frankfurt a. M., Regie und Titelrolle Heinrich George). Daraus resultieren die Abweichungen gegenüber der Orpheus-Sage: eingesprengte expressionistische Phantasmagorien und autobiographische Hinweise, zum  Beispiel Eurydikes Ring mit der griechischen Inschrift „allos makar“ (Glück ist anders), Anagramm von Oskar und Alma (Mahler). Die Trennung von ihr stürzte ihn in Depressionen. (Nb.: Krenek war 1924/25 mit Anna, der Tochter Almas, verheiratet.) Schon ein Jahr nach der UA dachte Kokoschka daran, das Drama vertonen zu lassen.  Krenek erfuhr sehr bald davon und kontaktierte Kokoschka in Dresden im Winter 1922, um Kürzungen des Schauspiels zu besprechen. Der Dichter/Maler bemühte sich in Paris und London um die UA. Aber erst als Paul Bekker 1925 Intendant am Staatstheater Kassel wurde und Krenek sein Assistent, kam das Werk auf den Spielplan.


Zeit und Ort der Handlung
(mythologische) Antike: 1. Akt – Garten und Haus des Orpheus, 2. Akt – Unterwelt, Weg zum Meer, Segelbarke, 3. Akt – In der Heimat des Orpheus


Inhalt
Zwei Stränge verklammern die Handlung: Orpheus und Eurydike sowie Amor und Psyche.
Orpheus und Eurydike, anfangs noch Liebende, geraten in ein von Unglück, Misstrauen und Hass durchfurchtes irreales Existenzfeld. Nach Irrfahrten (Assoziationen an Charon und Styx  stellen sich ein) kommt beider Geist erst im Tod zur Ruhe. Amor und Psyche hingegen erleben in einem Nachspiel ein friedvolles Ambiente (gleichsam eine Mini-Andeutung an das Faust-II-Finale). - Drei boshafte Furien (die drei Nornen?) bestimmen das Geschehen. Von ihnen irritiert, setzt die kindliche, oft schlafende Psyche  Amor dem Licht aus. Er erblindet, zu guter Letzt  machen ihn ihre Tränen wieder sehend. - Psyche geleitet Orpheus in die von widerlichen Hieronymus-Bosch-Figuren bevölkerte Unterwelt und findet dort die von Hades umgarnte, nach Jahren eroberte Eurydike. - Bei der zögerlichen Rückkehr zu einer fragwürdigen Oberwelt geraten Orpheus und Eurydike auf eine Art Totenschiff, gesteuert von einem trunkenen Narren, der zufällig jenen verloren gegangenen Ring Eurydikes wiederfindet, in den die Worte „allos makar“ (Glück ist anders) eingraviert sind. Er löst damit die Katastrophe aus, welche die Furien, ein Unglücksnetz strickend, von Anfang angesteuert hatten.


Musik
In den finalen Lobpreis … mischt sich aber unüberhörbar ein trauernder Ton. Den Verlust des Glaubens an die Unversehrbarkeit des Mythos musikalisiert Krenek, indem er zu Beginn einen Quartenakkord aus Debussys Pelléas et Mélisande übernimmt, zum bruitistischen Aufschrei steigert und am Ende des Vorspiels wieder ins Zitat zurücksinken lässt. Die weitgehend tonalitätsfreie Partitur wartet mit extremen dynamischen und koloristischen Kontrasten – Streichertremolo über Kastagnetten in der Hadesszene – auf und wird durch intervallische Motivfunktionen (meist Quarten), Formen aus der absoluten Musik (Rondo bei Eurydikes Abberufung in die Totenwelt durch die Mänaden, Passacaglia vor ihrem Schlussdialog mit Orpheus im Zwischenbereich) sowie tonale Minizentren in Orgelpunkten und rhythmischen Ostinati zusammengehalten.
(Ulrich Schreiber, Opernführer für Fortgeschrittene – Das 20. Jh. Bd. 1, Bärenreiter 2000)


Resümee
Das partiell verrätselte Libretto bietet eine breite Basis für szenische Umsetzungen und ist zugleich dramaturgische Herausforderung, Strukturen zu schaffen. Vorrangig hilft dabei die Musik. Sie gilt weithin als eine der besten im Bereich des Bühnenschaffens von Krenek. Bei konzertanten Aufführungen sollte man das Libretto mitlesen können.

 


Im Spiegel der Presse

Zur halbszenischen Aufführung am Berliner Konzerthaus
Neue Musikzeitung
8.2.2010, Albrecht Dümling
Zu Recht hat der Komponist seine Musik zu Orpheus und Eurydike viel höher eingeschätzt als die zum Jonny. Sehr unterschiedliche Stilebenen zwischen Tonalität und Atonalität unterstreichen die Handlung. So wird das Inferno, wie von Kokoschka vorgeschlagen, durch mechanische Repetitionen zum Ausdruck gebracht. Der glücklichen Vereinigung von Amor und Psyche entsprechen dagegen konsonante helle Streicherakkorde. Trotz gelegentlich drastischer Klangwirkungen bei dramatischen Schaltstellen stellte das Konzerthausorchester nie die Vorherrschaft der deutlich deklamierenden Gesangsstimmen und des Chores in Frage. Diese gelungene Ausgrabung macht neugierig…

Zur Wiederaufnahme am Staatstheater Kassel
Frankfurter Rundschau
19.2.1993, Vera Lumpe
Kreneks Musik faszinierte durch facettenreiches, zwischen spätromantischem Espressivo und kühler, oft auch maliziöser Distanzierung changierendes Kolorit und eindringliche Gestik.

Zur Aufführung am Staatstheater Kassel
Neue Zeit
9.7.1992, H.Z.
Krenek gelingen tief empfundene lyrische Passagen, die im Unisono singenden drei Furien haben zuweilen etwas ungemein Betörendes, und für die Toten in der Unterwelt oder die Matrosen auf Hades’ Schiff hat Krenek beeindruckende Chorsätze erfunden.

Zur Aufführung bei den Salzburger Festspielen
Frankfurter Rundschau
1.9.1990, Hans-Klaus Jungheinrich
Kreneks Kompositionsweise mutet dabei ebenso souverän wie sensibel an. Unauffällig und diskret gelang es, die beträchtlichen Textmengen in musikalische Formen einzuschmelzen…

Frankfurter Allgemeine Zeitung
1.9.1990, Bernd Loebe
Der hohe Emotionsgehalt der Vorlage animiert Krenek zu einer äußerst intensiven Sprache … Von frappierender Schönheit, schlicht und raffiniert zugleich, das große Liebesduett im zweiten Akt, emphatisch wie todessehnsüchtig der Tristansche Monolog des Orpheus.

Zur konzertanten Aufführung im Wiener Konzerthaus
Neue Zeit
29.5.1968, Gerhard Brunner
Auf weiten Strecken beeindruckt Kreneks dramatische Impulsivität, in der die Hektik jener Epoche nachklingt, an entscheidenden Punkten überzeugt seine musikdramaturgische Souveränität. … Expressionismus und Atonalität, Lyrismus und Psychologismus durchdringen sich in dieser zu Unrecht vergessenen Partitur …

Kurier
6.4.1968, Rudolf Weishappel
… die Musik [ist] stellenweise von ungeheuerlicher Ausdruckskraft. Man spürt sehr viel vom Impetus der damaligen Zeit, als ein so emotionell betonter Musiker, der Krenek damals war, die Fülle der Möglichkeiten abschätzte, die sich durch die Freiheit von der Tonalität anboten …

 

Weiterführende Literatur

Jürg Stenzl (Hg.), Ernst Krenek, Oskar Kokoschka und die Geschichte von Orpheus und Eurydike, Edition Argus, Schliengen 2005

Christian Baier, Der ausweglose Mythos. Zu Ernst Kreneks „Orpheus und Euridike“, in: Neue Zeitschrift für Musik, 5 (Mai 2003), S. 20–21

Eva Maria Jansenberger, Ernst Kreneks Verhältnis zum Expressionismus unter besonderer Berücksichtigung seiner Oper Orpheus und Eurydike, Diplomarbeit, Musikwissenschaft Wien 2001

Ulrich Schreiber, Opernführer für Fortgeschrittene. Die Geschichte des Musiktheaters, Das 20. Jahrhundert Bd. I, Bärenreiter Verlag 2000/2007

Susanne Lenz, Ernst Kreneks Oper „Orpheus und Eurydike“ und die Wandlung des Orpheus-Mythos in der Oper, Magisterarbeit, Universität zu Köln 1991

Carl Dahlhaus (Hg.), Orpheus und Eurydike, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 3, Piper Verlag, München und Zürich 1989

Hans Knoch, Orpheus und Eurydike. Der antike Sagenstoff in den Opern von Darius Milhaud und Ernst Krenek, Kölner Beiträge zur Musikforschung, Bosse Verlag, Regensburg 1977

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