Aus Lothar Knessls Führer durch Ernst Kreneks Bühnenwerke

Karl V.

Bühnenwerk mit Musik in zwei Teilen, op. 73 (1932/33, rev. 1954)

Text
Ernst Krenek


Verlag / Rechte
Universal Edition
LM / KA UE 10530 / TB UE 10531


Dauer
180 Minuten
Revidierte Fassung 1954: 120 Minuten


Uraufführung
22. Juni 1938
Neues Deutsches Theater, Prag (jetzt Smetana-Theater)

D Karl Rankl
R Friedrich Schramm
B Franz Schulthes


Uraufführung der Neufassung
11. Mai 1958 Deutsche Oper am Rhein


Aufführungen
Festspielhaus Bregenz (2008, Bregenzer Festspiele), Beethovenhalle Bonn (2000, konzertant, Beethovenfest), Kölner Philharmonie (2000, konzertant), Staatsoper Wien (1984), Felsenreitschule (1980, konzertant, Salzburger Festspiele), Staatstheater Darmstadt (1978), Opernhaus Zürich (1970), Opernhaus Graz (1969), Bayerische Staatsoper München (1965), Erstaufführung revidierte Fassung: Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf (11. Mai 1958), Wiener Konzerthaus (1951, konzertant), Städtische Bühne Essen (1950)


Aufzeichnungen
2009, Capriccio 9001, 2 DVD: Karl V., Kehraus um St. Stephan. Bregenzer Festspiele. D Lothar Koenigs; R Uwe Eric Laufenberg; Wiener Symphoniker; Karl V.: Dietrich Henschel, Juana: Chariklia Mavropoulou, Eleonore: Nicole Beller-Carbone, Ferdinand: Hubert Francis, Isabella: Cassandra McConnell, Juan de Regla: Moritz Führmann, Henri Mathys, sein Leibarzt: Andreas Herrmann, Francisco Borgia, Jesuit: Christoph Homberger u.a.
2001, MDG 337 1082-2, 2 CD, Mitschnitt Beethovenhalle Bonn. D Marc Soustrout, Orchester der Beethovenhalle Bonn; Karl V.: David Pittman-Jennings, Juana: Anne Gjevang, Eleonore: Turid Karlsen, Ferdinand: Alfons Eberz, Isabella: Franziska Hirzel, Juan de Regla: Christoph Bantzer, Henri Mathys, sein Leibarzt: Hans Schulze, Francisco Borgia, Jesuit: Werner Hollweg u.a.
2000, ORFEO C 527 002 I, 2 CD, Mitschnitt Salzburger Festspiele 1980, in Zusammenarbeit mit dem ORF. D Gerd Albrecht; Karl V.: Theo Adam, Juana: Hanna Schwarz, Eleonore: Sena Jurinac, Ferdinand: Thomas Moser, Isabella: Kristine Ciesinski u.a.


Besetzung
Karl V. (Bar)
Juana, seine Mutter (A)
Eleonore, seine Schwester (S)
Ferdinand, sein Bruder (T)
Isabella, seine Frau (S)
Juan de Regla (Sprechrolle)
Francisco Borgia, Jesuit (T)
Franz I. (T)
Frangipani (T)
Luther (Bar)
kleinere Gesangspartien und Sprechrollen
Anmerkung: insgesamt 34 Partien, in der revidierten Fassung gekürzt auf 25.
Chor SATB (Knabenchor nur in der 1. Fassung) – 2.2.3.2 – 4.2.2.1 – Timp, Perc (incl. Xyl, Glsp) – Hfe, Mand – Str
hinter der Szene: mehrere Trp, 4 kleine Glocken, Becken, Donnermaschine


Themenkreise
Vision eines christlichen Universalreiches, projiziert auf eine habsburgische Universalmonarchie.
Das Scheitern der Concordia-Politik Karls V.
Thema „Rechtfertigung“ im Banne des historischen Zwanges und als ideell triftiger Beweggrund, sich der Zwölftontechnik zuzuwenden.


Entstehung
Trotz der bedrohlichen Ausbreitung des Rechtsextremismus in Deutschland 1930/31 … regte Clemens Krauss Krenek an, für die Wiener Staatsoper eine historische Oper zu komponieren. Krenek wählte die Figur Kaiser Karl V., …, da der historische Stoff die erwünschte Distanz zum aktuellen Tagesgeschehen gewährleistete und zugleich die dezidierte Stellungnahme zur Gegenwart erlaubte … Kreneks umfangreichen historischen Studien … überzeugten ihn davon, dass es sich bei der Idee eines christlichen Weltreichs, die Karl V. hegte, um eine Vorform jener Ideologie eines „christlichen Ständestaates“ als Keim eines Universalreichs handelte, … die 1933 als offizielle Ideologie des österreichischen Staats deklariert wurde. …
(Aus: Claudia Maurer Zenck, Krenek: Karl V. 1938)


Zeit und Ort der Handlung
1558, im Kloster San Geronimo de Yuste in Estremadura


Inhalt
Historisch reflektierendes Stationentheater bildet die eine Schicht. Die essentiell andere macht das Thema Rechtfertigung zum dramatischen Movens. Willens abzudanken, blickt Karl V. am Ende seines Lebens zurück auf seine Entscheidungen von weltgeschichtlicher Tragweite, laut Krenek der Versuch, die Fehlschläge als das Ergebnis unausweichlicher Notwendigkeit zu rechtfertigen… Kern der Handlung ist der Dialog des Kaisers mit seinem jungen geistlichen Berater Juan de Regla. Eine Lebensbeichte. Der Mönch anerkennt Karls Rechtfertigungen nachsichtig als menschliche Wahrheit. Der Jesuit Francisco Borgia hingegen beharrt auf dem Maßstab der unantastbaren göttlichen Wahrheit. Rückblendend eingeflochten sind geschichtlich nachwirkende Ereignisse.
Ein symbolischer Rahmen. Am Beginn das Bild aus Karls Jugend: seine Mutter reicht ihm einen wurmigen Apfel. Am Schluss der sterbende Kaiser: der Globus, an dem er die Idee eines christlichen Weltreiches demonstrieren wollte, zerbricht, Ketzerschriften fallen heraus – der „Wurm“ im Inneren des Gefüges. – Karls V. Lebensetappen sind geprägt von seinem Wahlspruch „plus ultra“ (immer weiter). Letztlich wird ein leidvolles „nicht weiter“ daraus. – Reichstag zu Worms: Der Kaiser toleriert graduell
Luthers Reformbewegung. War das richtig gehandelt? – Franz I., König von Frankreich, hat den Krieg gegen Spanien verloren. Er versucht, Sultan Soliman als Verbündeten gegen Karl zu gewinnen. Die Heirat von dessen Schwester Eleonore mit Franz I. erweist sich letztlich nicht als Frieden stiftend. Später, nach dem Tod Isabellas, der Gattin Karls, unterliegt dieser flüchtig den Verlockungen des heiter leichten französischen Hofes, Reue lähmt seine Tatkraft. – Karls nicht entlohntes Söldnerheer plündert Rom, Papst Clemens VII. verflucht ihn. Karl kämpft siegreich gegen die Türken, der Papst versöhnt sich mit ihm, krönt ihn zum römischen Kaiser. – Karl bedient sich des aus dem Inka-Reich eroberten Goldes zu Gunsten seiner Kriegszüge. War das, und war die Folterung von Ketzern rechtens? – Moritz von Sachsen, zum Schein dem Kaiser treu ergeben, sammelt deutsche Heere und kämpft gegen ihn. Karl flieht zu seinem Bruder Ferdinand nach Wien, dessen Einigungsversuche nichts fruchten. – Solimans Astrologe deutet den Positionswechsel des Planeten Saturn als den Untergang Karls, in dessen Reich die Sonne niemals hätte versinken sollen. – Wird der Kaiser am Totenbett entsühnt sein?


Musik
In erster Linie ist es große Opern-Musik, deren Gestaltung der dramatischen Wirkung dient. Die von Krenek inaugurierte Kompositionstechnik ist das unverzichtbare Gerüst – hier die viel zitierte Zwölftontechnik -, innerhalb welchem der musikalische Gestenreichtum Halt findet. Markant sind beispielsweise die unterschiedlich gefärbten Klangwelten, mit denen Krenek die Leichtigkeit am französischen Hof und die Gewichtigkeit (wenn man so will: Strenge) im Handlungsumfeld des Kaisers charakterisiert. Im übrigen sagte der Komponist, er habe die Reihentechnik „kavaliersmäßig“ behandelt. Dem Stoff entsprechend, sei formal vieles fragmentarisch, da Leben und Wirken Karls V. „ein einziges Fragment“ sei. Die Komposition selbst ist dies freilich nicht. Die supponierte Gesetzlichkeit historischen Geschehens findet ihre Entsprechung in der Gesetzlichkeit der vorausgesetzten musikalischen Reihe. Und die Reihen sind dazu da, Themen darzustellen, opernhafte Gestik zu erzielen. An prononcierten Stellen geschieht dies geradezu lautmalerisch...
(Aus: Lothar Knessl, Zwölftonfiguren in Kreneks „Karl V.“, in: Österreichische Musikzeitschrift 8-9/2000)


Resümee
Die Thematik der Oper bietet ein breites Spektrum von Inszenierungsmöglichkeiten. Die dramatische Kraft der Musik wirkt unmittelbar und nachhaltig. Dem gegenüber ist nachrangig, dass es sich um die erste (nicht im strengen Sinne konsequente) „Zwölftonoper“ der Musikgeschichte handelt.

 


Im Spiegel der Presse

Österreichische Musikzeitschrift
10/2008, Anna Mika zur Aufführung bei den Bregenzer Festspielen
Die Musik überzeugte so manchen Skeptiker davon, dass Zwölftonmusik sinnlich und höchst dramatisch bis hin zu rhythmischer Stringenz ein Bühnengeschehen kommentieren und unterstreichen kann.

Frankfurter Rundschau
18. Oktober 2000, Hans-Klaus Jungheinrich zur konzertanten Aufführung beim Beethovenfest Bonn
Der farbigere erste Teil rekapituliert in gleichsam filmischen Rückblenden wichtige Lebensstationen des Kaisers. Im zweite Teil … wird in den Gewissensqualen des sterbenden Karl das Scheitern seines Lebenswerkes offenbar. …
Impulsivität und Feuer kennzeichnen weitere Abschnitte der Musik, vor allem die beiden breit ausgeführten Finali, in denen eine immense Polyphonie herrscht...

Opernjournal
10/84, XX zur Aufführung an der Wiener Staatsoper
Festzustellen ist, dass Kreneks Karl-Drama in unserer Zeit neue Bedeutung, neue Aktualität gewonnen hat. Die Bemühungen um eine europäische Gemeinschaft über engstirnige nationale Prioritäten hinaus, die Idee eines vereinten Europas, die schrecklichen Folgen eines politisch motivierten religiösen Fanatismus, die wir täglich beobachten können, verliehen dem Stück geradezu brisante Präsenz in unserer Zeit.

Die Tat, Zürich
1970, zur Aufführung am Zürcher Opernhaus
In Karl V. wird der Konflikt zwischen der freien Willensentscheidung und der Erfüllung eines göttlichen Auftrages zum eigentlich tragischen Thema. Die Frage wird nicht eindeutig beantwortet, „weil die Gnade … stumm ist“. Doch hat die Musik die magische Kraft, mit tröstender Milde das auszusprechen, was dem Wort versagt ist … Der Schluss der Oper mit dem leise verhaltenen Chor der Toten ist einer der großen, genialen Momente musikalischen Theaters.

Rezensionen von der Uraufführung 1938 in Prag
Anmerkung: Das Theater hat für die – durch nationalsozialistische Störungen erschwerte - Erarbeitung des Werkes die komplette Saison 1937/38 investiert. - Darüber ein ausführlicher Bericht in der Tageszeitung Bohemia (Juni 1938)

Presse, Prag
23. Juni 1938, zur Welturaufführung
Ein grandioser Vorwurf von tiefräumiger Perspektive, weit mehr als ein kühnes Experiment, das in seiner entschlossenen Zielsetzung und in seinen Ansprüchen alle bisherigen weit hinter sich lässt.

Prager Mittag
23. Juni 1938 (sehr ausführlich zur UA)
Dem auf der Opernbühne noch nicht dagewesenen Buch entspricht eine revolutionäre, ihrer Zeit vorauseilende Musik, die … höchstens in ihrer Wirkung annähern geschildert werden kann. … Dazu kommt, dass den Reihen fraglos charakteristische, aber nicht eigentlich melodiebildende Kraft eignet. Daher die in zahlreichen Höhepunkten gewaltige, aber durchaus abstrakte Wirkung der Musik … Und gerade in dieser Einschränkung liegt gleichzeitig ihre Stärke.

Prager Tagblatt
23. Juni 1938, Hans Heinz Stuckenschmidt (!) über die UA
Vor das Urteil über die Musik … muss die Feststellung gesetzt werden, dass die gestrige Aufführung vom Publikum mit lebhaftem Beifall aufgenommen wurde. Sie brachte dem Neuen Deutschen Theater einen ideellen Triumph, wie ihn auch die Anhänger Kreneks nicht erwartet hätten. … In dieser Partitur stehen musikalische Visionen von genialer Kraft und Anschaulichkeit … Am höchsten erhebt sich Kreneks Inspiration in den beiden Finales...

 

Weiterführende Literatur

Rudolf Stephan, Lothar Knessl, Matthias Schmidt u.a., Krenkes Karl V. – Interdisziplinäre Perspektiven. Beiträge des Symposions im Kunsthistorischen Museum Wien 20./21.6.2000, in: Österreichische Musikzeitschrift, 55:8-9 (August/September 2000), S. 16-41

Claudia Maurer Zenck, Krenek: Karl V. (1938), in: Carl Dahlhaus u.a. (Hg.), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper – Operette – Musical – Ballett, Piper Verlag, München 1989, S. 336–339

Ernst Krenek, Vorbemerkung zur Vorlesung von Karl V. in Graz, 3.2.1936 und Studien zu meinem Bühnenwerk „Karl V.“, Heinz-Klaus Metzger, Plus ultra: Notizen zu Kreneks „Karl V“., Claudia Maurer Zenck, Schöne und „scheene“ Musik: Zur Entstehung von „Karl V.“, alle in: Ernst Krenek, Musik-Konzepte, Band 39/40, edition text + kritik München 1984

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