[Aus Franz Schuberts letzter Schaffensperiode. Chronologie und Analyse des Streichquartettes Nr. 15, G-dur, op. post. 161, D 887]
Abstract
Für eine Radiosendung (November 1973) des Südwestfunks in Baden-Baden, analysierte Ernst Krenek Schuberts letztes Streichquartett. Unter äußerst dichter Illustration durch Beispiele beschreibt er harmonische und formale Details des Werks und schließt den Vortrag mit bewundernder Anerkennung von Schuberts „schlechthin unbegreiflichen“ Arbeitstempos.
Man verbindet mit image nicht aus dem Bedürfnis nach einem
Gegenbild zu dem titanischen
Umsomehr mag man sich wundern, daß viele seiner
bedeutendsten Arbeiten, die die Nachwelt bis heute mit
staunender Bewunderung erfüllen, zu seinen Lebzeiten
überhaupt nicht oder nur beiläufig und bruchstück-
weise aufgeführt wurden. So erging es auch seinem
fünfzehnten und letzten
Das Quartett, aus
2
auch, daß seine Phantasie über die Grenzen des Gegebenen
in neue Bereiche vorstieß. Gleich in den ersten Takten er-
eignet sich jener kühne Wechsel von Dur nach Moll, der zum
bewegenden Prinzip für die ganze riesige Struktur des ersten
Satzes wird. Der durch zwei Takte ausgehaltene G dur Drei-
klang wechselt unvermittelt in den g moll Akkord.
1 I 1 - 3 (I. V.)
Erst 2
Der Prozeß wird sogleich wiederholt mit dem Dominant-
akkord: D dur wechselt zu d moll.
3 6 - 8 (I. V.)
Das bedeutungsvolle Element in diesem Wechsel ist der ab-
steigende Halbtonschritt: von h nach b, im Dominantklang
von fis nach f. Er wird an den entscheidenden Gelenk-
stellen des Satzes immer wieder wirksam gemacht.
Hören wir nun, wie 4 1 - 10
Der zackige Rhythmus wird sogleich benützt, um die
abrupte Anfangsgeste in ein weitgedehntes erstes
Thema fortzuspinnen.
5 15 - 33 (I. V.)
Das chromatische Element erscheint jetzt in der
Baßlinie und unterbaut die für dieses Werk so charak-
teristische absteigende Dreiklangsfolge G dur, F dur,
Es dur, D dur. In der sogleich folgenden Variante
wird nun das Element der chromatisch herabrutschenden
großen Terz des Dur-Dreiklangs nicht mehr benützt,
um in den gleichnamigen Moll-Akkord zu gleiten, sondern
um direkt in die eben geschilderte absteigende Drei-
klangsfolge zu gelangen.
6 33 - 42 (2. V.)
Zum Abschluß dieses thematischen Komplexes hört
man die Grundtonart G dur energisch bestätigt durch
eine dreimalige Wiederholung des hüpfenden Rhythmus.
7 51 - 54 (Anfang)
3
Daran schließt sich nun, als Überleitung zum zweiten Thema,
wieder das chromatische Abgleiten durch den Moll-Dreiklang
zum Dominant-Akkord, diesmal eine absteigende Sequenz,
die überraschenderweise auf Fis-dur zum Stillstand kommt.
8 54 - 63
Das ist überraschend, weil der Tradition zufolge das zweite
Thema in der Dominant-Tonart zu erwarten ist, also hier
in D dur, und in diesem Fall die Zwischenkadenz, die
es ankündigt, gewöhnlich zur Dominante dieser Tonart
führt, hier also A dur. Das zweite Thema steht tatsächlich
in D dur, und wieder wird das chromatische Abgleiten
benützt, um die Situation, die sich durch das zu weit
gehende Gefälle der Überleitung ergeben hat, einzurenken.
Das Ais des Fis dur Klangs wird zum A der D dur-Dominante
herabgezogen, und die leicht auf und nieder schwingende
Linie des zweiten Themas nimmt ihren Anfang.
9 64 - 76 (1. Hälfte)
Die kleine melodische Floskel, die das Thema abschließt,
erinnert in ihrer rhythmischen Gestalt an die höpfende
Figur am Ende des ersten.
10 74 (2. Hälfte) - 76 (1. Hälfte)
Indem auch diese Floskel dreimal erscheint, wird der
Zusammenhang zwischen den an sich kontrastierenden
Themengruppen diskret betont. Die dreimalige Wieder-
holung fällt besonders auf, da, um sie unterzubringen
die letzte des aus drei viertaktigen Phrasen be-
stehenden Themas auf fünf Takte ausgedehnt werden.
mußte.
11 Wiederholung von 9, mit Zählen
Die nächste Überraschung ist, daß abweichend von
überlieferter Prozedur das ganze zweite Thema viermal
gebracht wird. Zunächst wird es in D dur wiederholt, wobei
die erste Geige eine leichte, sozusagen Koloratur-Ober-
stimme beisteuert.
12 77 (2. Hälfte) - 90 (1. Achtel)
4
Es folgt eine ausführliche Überleitung, die in ihrer harmoni-
schen Bewegtheit schon etwas Durchführungscharakter trägt.
Sie führt zwar zum D dur Dreiklang zurück, aber die
Art seiner Einführung läßt ihn als Dominante von G er-
scheinen.
13 90 - 108
Darauf folgt der dritte Vortrag des zweiten Themas,
diesmal in B dur, in einer Variation für Cello solo, mit
pizzicato der anderen Instrumente.
14 109 - 122 (1. Achtel)
Die durchführungsartige Überleitung wird wieder auf-
genommen und führt nach Fis dur, das nunmehr so
wie das erste Mal das Stichwort zum letzten Eintritt des
zweiten Themas in D dur liefert. Es ist eine Variation, 15 141 (2. Achtel) - 154 (1. A.)
Nebenbei zeigt sich, daß das Hauptelement des Themas, die leicht schwingende Linie nacheinander der ersten, der zweiten Geige, dem Cello und zuletzt der Bratsche anver- traut war, so daß jeder dran kommt.
Nach diesem außerordentlichen Exkurs kommt die kunstreiche Exposition mit energischen auf- und absteigenden Unisonos aller vier Instrumente relativ schnell zu Ende.
Der anscheinend rein formelhafte Abschluß mit der
Abwechslung der Tonika D mit ihrem Leitton cis
16 165 - 169 (1. A.)
wird jedoch bedeutungsvoll identifiziert mit jenen ab-
steigenden Halbtonschritten, die im ersten Thema so ent-
scheidend waren
17 169 - 170, 175 - 182 (1. A.)
Die zersetzende Wirkung, die das chromatische Wesen auf
die Stabilität des Tonalen ausübt, wird von
5
letzten Beispiels werden fünf Tonarten berührt. Sie sind aber
nicht durch die üblichen modulatorischen Prozeduren auf ein-
ander bezogen, sondern erscheinen nur als flüchtige Durch-
gangspunkte über der unaufhaltsam abgleitenden Baßlinie.
Sie kommt auf der Dominante von Es dur zum Stillstand,
und hier, also einen Halbton höher als das Ende der Exposi-
tion, wird der graziöse Teil des ersten Themas mit dem hüp-
fenden Rhythmus präsentiert.
18 185 - 194 (1. A.)
Der chromatische Gleitprozeß wird in variierter Höhen-
lagenverteilung wiederholt, ebenso jener Teil des ersten
Themas, wiederum einen Halbton höher, in E dur, durch
eine dramatisch werdende Tonlinie der ersten Geige
bereichert.
19 194 - 218
In der zweiten Hälfte der Durchführung wird das einmal
entfesselte chromatische Element in der Gegenrichtung
wirksam gemacht, um durch einen aufsteigenden Halbton
zur nächsthöheren Molltonart zu gelangen.
20 223 - 230
Was dieses neue chromatische Abenteuer in den Gesamt-
verlauf integriert, ist die halbtönig absteigende Baßlinie,
mit der die Durchführung begonnen hatte. Auch dieser
Vorgang wird wiederholt und führt diesmal nach
der Zieltonart G moll, in welcher die Reprise einsetzen
wird.
21 247 - 254
Die erste Überraschung hier ist die Wiedererscheinung
des ersten Themas selbst: diesmal geht der Moll- dem
Dur-Dreiklang voraus, die Anordnung des Anfangs
wird also rückläufig gemacht. Außerdem wird der
aggressive Charakter jenes ersten Auftretens entschärft
und in eine lyrisch-graziöse Atmosphäre umfunktioniert
22 283 - 215 (1. V.)
Wie in manchen anderen Fällen, weicht
6
das zweite Thema zunächst in einer von der Grundtonart
verschiedenen auftreten läßt. Schon jene dreimalige hüpfende
Abschlußfigur des ersten Themas führt uns diesmal nach
C dur, und der ihr folgende chromatische Abstieg wird auf
E dur aufgefangen.
23 335 - 347
Und so wie nach dem Fis dur der Exposition das zweite Thema
in D erscheint, so wird es auch hier eine große Terz tiefer,
in C präsentiert. Auch hier folgt die Variation mit den
Koloraturen der ersten Geige, und erst ihre durchführungs-
artige Fortsetzung führt zu jenem H dur, von dem aus
gerechnet G dur eine Terz tiefer steht, und dort erscheint
jetzt das zweite Thema zum letzten Mal.
24 361 - 406 (1. A.)
Der Abschluß der Reprise folgt genau dem Modell der
Exposition und wird wieder von jenem chromatischen
Herabschwirren gefolgt, als ob eine neue unstabile
Durchführung bevorstünde. Aber das täuscht, und alles
drängt zum Schluß, der nochmals das Kernmotiv des
Dur- und Moll-Wechsels kraftvoll bestätigt.
25 420 - 449
Dieser ebenso ausgedehnte wie geistreiche erste
Satz wurde in einem Konzert in
7
Benützung überlieferter Prozeduren blieb seine Tonsprache
stets durchaus kommensurabel, da die Kühnheiten im Wesent-
lichen subtile Finessen waren, die den Kenner entzücken mochten,
während sie der durchschnittliche Musikliebhaber überhören
konnte, ohne des Ausdrucksgehaltes dieser Musik ver-
lustig zu gehen. Im Gegensatz zu
Es gibt einen Bericht, wonach auch der zweite Satz
des einem
Wenn wir versuchsweise annehmen, daß Fräulein Fröhlich den zweiten Satz des Quartetts gehört hat, so
8
können wir es ihr vielleicht nicht verargen, daß sie an ein
schwedisches Volkslied oder etwas dergleichen erinnert wurde. Das
Hauptanliegen dieses Satzes ist ein in jeder Hinsicht harm-
loses liedhaftes Thema. Seine aus viertaktigen Phrasen streng
symmetrisch aufgebauten acht- und sechzehntaktigen Perioden
sind durch keine bei 26 II 1 - 18
An diesem friedfertigen Sätzchen ist höchstens bemerkens- wert, daß von den acht Takten der ersten Periode nicht weniger als sieber die Dominante von e-moll umspielen, während die Tonika erst im achten Takt entscheidend hervortritt. Dieses lange Zögern vor dem Aussprechen des Selbstverständlichen mag als reizvoll, oder aber auch als etwas geziert empfunden werden.
Man kann nicht sagen, daß die Fortsetzung ein erregendes
Moment in den Verlauf einführt.
27 19 (m. Auftakt.) - 31 (1. V.)
Die ausführliche Wiederholung einfacher melodischer Gebilde in einem harmonisch völlig statischen Rahmen läßt er- kennen, daß die Vitalität des Einfalls nicht ganz ausreichte, einen vorgegebenen Raum mit Leben zu füllen.
Das Bild ändert sich, wenn der schon im ersten Satz
bemühte absteigende Halbtonschritt einen anderen Horizont
auftut. Der schwedische Abend verdüstert sich unversehens,
zackige Rhythmen türmen sich auf.
28 40 (m. Auft.) - 48 (ohne letztes
Von dem stürmischen Gedränge bleibt jeweils im Cello eine
Zacke übrig, wie aus felsigem Gefüge herausgebrochen.
Das Gedränge wird noch dramatischer durch die schnellen,
rauhen Passagen der vier Instrumente. Die zackige
Figur erscheint nochmals, auf ein zweitöniges, blitz-
artiges Zucken verkürzt.
29 49 (m. Auft.) - 52
Düstere Tremolos verdunkeln die Landschaft weiterhin durch eine unerwartete, wieder durch den Halbtonschritt
9
eingeleitete Abweichung nach dem entfernten cis moll. Die
blitzartige Figur verharrt aber hartnäckig auf ihrer von
g moll abgeleiteten Tonhöhe. Sie wirkt hier als aufregender
Fremdkörper, und nicht weniger so, wenn sich der Prozeß
in weiterhin absinkenden Tremolos wiederholt und nach
b moll führt.
30 53 - 56
Es ist interessant, daß an allen diesen Punkten das
grelle Herausfallen der kleinen Blitze aus dem lokalen
harmonischen Verlauf wegerklärt werden kann, wenn
man sie als die Hälfte eines verminderten Septimenakkordes
auffaßt, dessen andere Hälfte von den den Blitzen fol-
genden kleinen Tremolo-Terzen gebildet wird - ein
Akkord, der in jeder der von den Tremolos erreichten
Tonart einen legitimen Platz hat.
Nochmals ein Halbtonschritt hinunter, und der ganze ungewöhnliche Vorgang wird auf niedriger Ebene wieder- holt.
Es folgt eine ausführliche Reprise des lyrischen Anfangs-
teils, die erste von zwei solchen Reprisen. Sie steht in h moll
und zeichnet sich durch einige attraktive Umspielungen
der schlichten Gesangslinie aus.
31 90 (m. Auft.
Eine bescheidene Imitation kontrapunktiert die graziösen
Figuren des Cellos gegen Ende dieser Reprise.
32 112 - 119 (1. V.)
Die stürmische Episode mit den zuckenden Blitzen
wird auf anderen Ebenen wiederholt und führt nach
einer langen Überleitung zur letzten Reprise des
Hauptteils, diesmal in e moll, mit kleinen Aufhellungen
in E dur.
33 176 (Auft.) - 183 (3. V.)
10
Der klopfende Begleitrhythmus, der als neues Element hinzutritt, kann nicht das Bedenken zerstreuen, daß hier vielleicht des Guten zu viel, oder nicht genug getan wurde, um eine so ausführliche ABABA Form eines langsamen Satzes von immerhin 229 Takten mit Leben zu füllen.
Schon der Anfang des dritten Satzes entschädigt uns für die
leichte Ermüdung, die der langgedehnte Zweite hat vielleicht
aufkommen lassen. Das rasch bewegte Scherzo beginnt normal
genug mit einer achttaktigen Periode, die aber bei näherer
Betrachtung in zwei Phrasen von je sechs und zwei Takten
zerfällt.
34 III 1 - 8
Die ersten sechs Takte bilden offensichtlich eine Einheit,
35 1 - 6
die von den folgenden zwei durch die Pause in der Oberstimme
deutlich abgesetzt ist.
36 1 - 8
Die letzten zwei Takte wirken als bestätigender Abschluß.
Der Vorgang wird nochmals durchgenommen und mündet
in der parallelen Dur-Tonart, in D dur.
37 9 - 16
Die folgenden sechzehn Takte befestigen in mehreren Ka-
denzen diese Zwischentonart, wobei an der Brechung des
jeweiligen Akkords in drei absteigende Töne festgehalten
wird, nach dem Muster des zweiten Taktes des Hauptthemas.
38 17 - 32
Der Durchführungsteil des Scherzos bringt jene chromatischen
Elemente ins Spiel, die den ersten Satz so weitgehend beherrscht
hatten. Schon in den ersten Takten wird mit Hilfe ab-
steigender Halbtonschritte schnell das Gebiet mehrerer Ton-
arten durchschritten.
39 33 - 44 (1. V.)
der dreitaktige Aufenthalt in e-moll bietet nicht die
Stabilität, die er andeutet. Der chromatische Zersetzungs-
prozeß geht sogleich weiter und bringt sogar jenes halb-
tönige Herabschwirren in Erinnerung, das die Durch-
führung des ersten Satzes charakterisiert hatte.
40 45 - 62 (1. V.)
11
Ein dreitaktiger Aufenthalt in cis moll artikuliert die
Form dieser Durchführung, aber auch hier geht es gleich weiter,
bis die Bewegung auf der Dominante von h moll sich konso-
lidiert und in einer aufsteigenden Halbtonlinie zur Reprise
führt.
41 45 - 62 1. V.)
Hier wird die Wendung nach D dur ersetzt durch eine nach
C dur, was die sogenannte neapolitanische Sext von h moll
ist, und an Stelle von acht Takten bedarf es jetzt einer
Dehnung auf zwölf, um die abschließende Phrase von
acht Takten in H dur herbeizuführen.
42 99 - 126 (1. V.)
Die Coda ist noch gewürzt durch den unvermittelten Eintritt
eines Es dur-Dreiklangs, der sich in der h moll Umgebung
reichlich fremd ausnimmt. Er ist jedoch respektabel zu
machen, wenn man ihn als Teil des verminderten Septimen-
akkords der siebenten Stufe von h moll auffaßt, wobei das
E zu es alteriert und das B als ais zu lesen ist. Die Aka-
demiker atmen auf.
43 131 - 132
Es ist noch zu bemerken, daß dieses Scherzo in seiner
ganzen Ausdehnung von 146 Takten ein pausenloses
perpetuum mobile ist, aufgebaut auf der unablässigen
Wiederholung seines rhythmischen Urmotivs: sechs Achtel
plus drei Viertel.
44 1 - 2
Gegenüber der ruhelosen Hast des Scherzos stellt das
friedlich heitere Trio einen willkommenen Kontrast
dar. Seine schlichten achttaktigen Perioden werden
durch graziöse Kontrapunkte zur leicht hinfließenden
Hauptmelodie angenehm belebt.
45 (Trio) 151 - 166
Rapide Bewegung hingegen kennzeichnet wieder den letzten Satz. Daß das ganze Quartett einem ein- heitlichen Konzept entsprungen ist, läßt sich daraus erschließen, daß gleich in den ersten Takten der
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Wechsel von Dur und Moll zum Ausgangspunkt der
bevorstehenden ausgedehnten Vorgänge gemacht wird.
Wir hören G moll im ersten Takt, aber schon im dritten wendet
es sich nach G dur. Zwei Takte weiter hat man wieder g moll,
das aber diesmal eine viertaktige Es dur-Insel entstehen läßt,
bevor es in eine schnelle pianissimo Kadenz in G dur mündet.
Wir erinnern uns an die charakteristische Rolle, die Es dur in
der Ausarbeitung des ersten Themas im ersten Satz hatte. Hier
nun diese ersten zwölf Takte:
46 IV 1-12 (1. A.)
Es ist deutlich zu spüren, daß die vier Es dur-Takte ein Ein-
schub sind, der die normalen acht Takte der Periode auf
zwölf erweitert. Um das Gleichgewicht in Schwebe zu er-
halten, wird die geplante Wiederholung der Periode nicht
sofort angeschlossen, was sie kurzatmig machen würde,
sondern es werden zwei Takte eingeschoben, die durch die
überraschende Einführung der Dominante von B dur
die nötige Gewichtsverlagerung bewirken. Hier nun
das Ganze:
47 1 - 15 plus 1 - 14
Ein besonders schönes Beispiel für
Es handelt sich hier um einen jener hinrasenden
Sechsachtelsätze, die 48 d-moll Qu. IV 1 - 16
Das Finale der 49 Sonate c moll, IV 1 - 16
Die Andeutung der B dur-Dominante, die wir hervor- gehoben haben, bleibt nicht ungenützt. An die
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Wiederholung der ersten Periode schließt sich eine kleine
Variante des Anfangsthemas in B dur, aber sie wird in kühnem
Schwung in einem Takt nach h moll geworfen, ebenso schnell
nach F dur und G moll gewendet, wo ein längeres Zögern
auf einem enharmonisch umdeutbaren Terzquart-Akkord die
ebenso entfernte Tonart As dur vortäuscht, bevor wir nochmals
zur Haupttonart zurückkehren. Nach einer kurzen Ausweichung
nach b moll folgt eine mehr stabile Coda, die das etwas an-
geschlagene G dur festigt.
50 14, 16 - 70 (1. A.)
In diesen 72 Takten sind wir durch fünf weit auseinander liegende Tonarten gerissen worden, und doch sind wir erst am Ende des ersten Themas angelangt.
Es nimmt nicht wunder, daß die Überleitung zum zweiten
Thema das chromatische Taumeln fortsetzt,
51 74 - 88
bevor das schalkhafte zweite Thema sich in D dur niederläßt.
52 94 - 109 (1. V.)
Das Modell der großen Rondoform, dem zu folgen wir von
diesem Satz nach seinem bisherigen Gehaben erwarten,
würde jetzt eine Rückkehr zum ersten Thema verlangen. Statt
dessen folgt, was man am ehesten als Durchführung des
zweiten Themas bezeichnen könnte. Jedenfalls dominiert
in dem unstabil fluktuierenden Abschnitt das Element der
drei klopfenden Achtel.
53 150 - 188 (1. A.)
Während vom ersten Thema weiterhin keine Spur zu vernehmen
ist, taucht ein total verschiedenes drittes Thema auf.
54 211 (2. Hälfte) - 234 (1. A.)
Die bisher vorherrschende fieberische Hast steht still.
Die majestätischen Klänge machen glauben, daß das Tempo
plötzlich halb so schnell ist. Während bisher der in drei
schnelle Achtel unterteilte halbe Takt die Zähleinheit war,
ist es nun plötzlich der ganze Takt. 55 d moll Qu.IV 90 - 112 (1. A.)
14
Dieses kurze Thema bleibt isoliert und wird nicht weiter ent-
wickelt. Die ruhelose Bewegung, von der es alsbald wegge-
schwemmt wird, führt endlich zur Reprise des Hauptthemas,
die aber rasch in eine Durchführung übergeht, in die auch
seine Coda verwickelt wird. Man hört kurze Ansätze zu
kontrapunktischer Engführung und Umkehrung.
56 274 - 300
Die entfesselte Chromatik führt in das entlegene cis moll,
und dort entfaltet sich überraschenderweise ein wiederum
scheinbar ruhigeres viertes Thema.
57 324 - 341 (1. H.)
Auch diesem wird von dem rastlosen Durchführungstreiben
eine Fortentwicklung gegönnt. Die Idee der in der chromatisch
absteigenden Skala repräsentierten geradlinigen Bewegung
strebt man ihrer einfachsten, radikalsten Ausprägung zu:
die chromatische Linie erscheint im Cello und wird mit einer
ebenso geradlinig aufsteigenden im Diskant gekoppelt.
58 415 - 432 (1. A.)
Damit wird die Reprise eingeleitet. Das in den Durchführungs-
teilen so eingehend behandelte erste Thema erscheint verkürzt
während das zweite und dritte unverändert ihren in der Ex-
position vorgezeichneten Lauf nehmen. Die Coda besteht aus
einer letzten Darstellung des Hauptthemas, die schnell zur
kulminierenden Wiederholung der radikalen gegenläufigen
Linien führt.
59 653 (Auft.) - 674
Der letzte Auftritt des Coda-Themas scheint zu zerflattern,
in der Ferne sich aufzulösen. Ein kräftiger Schlußpunkt
besiegelt das Ende des ungeheuren Opus. Der letzte Satz
allein hat 710 Takte.
60 682 - Ende.
Das ganze Werk hat 1588 Takte, das ist ungefähr die Länge von zwei Akten einer abendfüllenden Oper. Man hat die in der Partitur angegebenen Daten zweimal zu lesen, um sicher zu sein, daß man sich nicht geirrt hat. Dieses riesige Werk wurde in zehn Tagen komponiert und
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niedergeschrieben, von 20. bis 30. Juni 1826. Das bedeutet schon
rein manuell eine Rekordleistung. Ein Kopist, der im Durch-
schnitt täglich 160 mit Noten dicht gefüllte Takte zustande
bringt, hat gute Arbeit geleistet. Aber dieses Werk wurde ja
nicht kopiert, sondern geschaffen, und unsere Analyse hat
hoffentlich anschaulich gemacht, wie viele Einfälle einer
strömenden Phantasie nicht durch einen Rekurs auf tradi-
tionelles Verfahren erledigt werden konnten, sondern frisch
formuliert werden mußten, wieviel technischer Scharfsinn
und sorgfältige Überlegung auf die Ausführung ungewöhn-
licher Formideen verwendet werden mußte. Gewiß sind
manche ausgedehnte Partieen wörtliche Wiederholungen
vorhergehender Exposition. Aber auch diese konnten nicht
mechanisch kopiert werden, da sie stets in anderen Tonarten
erschienen, was oft auch Modifikationen in der Instru-
mentenverteilung notwendig machte. Natürlich ist es
im Endresultat belanglos, wieviel reale Zeit die Schaffung
eines Kunstwerkes in Anspruch nimmt. Es läßt sich sagen
daß schnelle Arbeit das Entstehen langer Werke be-
günstigt, während langsamer Schaffensprozeß zu
Konzentration und Dichte der Aussage drängt. Wie immer
man das beurteilen mag,